Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
mal, Haven«, begann er, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Was wünschst du dir am meisten?«
Ich hielt einen Moment inne. »Hm, na ja, vielleicht sollte ich als Nächstes die Schnecken probieren?«
Er lächelte, ein echtes, breites Lächeln, ließ den Tisch rotieren, bis die Schnecken vor mir standen, und fuhr dann fort: »Eigentlich meinte ich ja eher, was du dir so vom Leben erwartest.«
»Wow.« Ich ließ die Gabel sinken, sah ihn an und schaute schnell wieder weg. »Das hatte ich jetzt total falsch verstanden, oder?«
Wir lachten beide in einem ähnlichen Tonfall. Ich suchte nach diesem Fauxpas immer noch nach einer intelligenten Antwort, als er mir zu Hilfe eilte: »Erinnerst du dich noch an deinen Geburtstag? Da habe ich dir doch gesagt, dass du dir was wünschen sollst.«
»Klar.«
»Also, was war das für ein Wunsch?«
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm das verraten wollte – das war schließlich der Tag meiner Ankunft gewesen. Nachdem ich ihn kennengelernt hatte, hatte ich an gar nichts anderes mehr denken können als an die Frage, ob er wohl je Interesse an mir haben könnte. Also sagte ich einfach: »Ehrlich gesagt habe ich mir nicht direkt was gewünscht. Ich war nämlich ziemlich abgelenkt. Und irgendwann war mir dann auch schlecht.«
»Schade.«
»Das ist schon okay. Also, das war es mir wert.« Und jetzt überkam mich schon wieder dieselbe warme Benommenheit wie nach diesem feurigen Getränk. Da ich nur Wasser intus hatte, konnte ich mir das wirklich nicht erklären. Vielleicht erging es mir einfach in Lucians Gegenwart so. Wenn er noch ein bisschen weiterbohrte, würde ich gleich damit herausplatzen, dass ich ihn liebte und ihm bis ans Ende der Welt folgen würde. Er machte mich geradezu süchtig.
»Und, wie gefällt es dir hier?«, fragte er. »Würdest du gern zum Syndikat gehören?« Das fragte er einfach so, ganz beiläufig.
»Also, jetzt hypothetisch gesprochen, oder …« Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn mit leuchtenden Augen anstarrte. Gedankenverloren spielte ich mit meiner Gabel herum, drehte sie wieder und wieder.
»Im Moment erst mal hypothetisch.«
»Na ja, da wäre doch jeder gerne dabei, oder?«
»Ja, aber du denn auch?«
»Ich weiß nicht so recht. Ich meine, mir war nie klar, dass diese Möglichkeit besteht.«
»Ich bin noch gar nicht lange dabei.«
»Echt?«
»Ja, das ist ja gerade das Reizvolle hier. Wenn man seine Arbeit gut macht, klettert man die Karriereleiter ziemlich schnell hoch. Und dann ist man plötzlich ganz oben, hat in der Stadt Einfluss, kennt jeden, verfügt über alles, was das Herz begehrt – Ruhm, Erfolg, die ganze Palette. Man ist wichtig. Einige bringen es natürlich nie so weit, aber manche Menschen …«, er sah mich durchdringend an, hielt meinen Blick eine Sekunde, »… manche Menschen muss man nur in die richtigen Bahnen lenken, dann sind sie nicht mehr aufzuhalten. Und zu der Sorte gehörst du, Haven, das wissen wir alle.«
»Äh, schön, das zu hören.«
»Also, wofür würdest du alles geben? Was wünschst du dir im Leben am meisten? Was würde dich glücklich machen?«
»Aber ich bin doch glücklich.«
»Das weiß ich. Aber was würde dein Leben völlig auf den Kopf stellen? Wenn du alles haben könntest, was du dir wünschst, egal was? Heute, morgen, für immer. Wovon träumst du?«
Ich dachte darüber nach. Heute oder morgen war etwas ganz anderes als für immer. Heute, in genau diesem Moment, sehnte ich mich nach ihm. Aber das konnte ich ihm schließlich schlecht verraten, und es gefiel mir auch, dass wir hier über so tiefschürfende philosophische Themen sprachen, also beschloss ich, mitzumachen und ihm eine ernsthafte Antwort zu liefern. »Also, ich denke, dass ich gerne etwas Wichtiges leisten möchte. Ich möchte Medizin studieren und Ärztin werden. Über die Fachrichtung bin ich mir noch nicht ganz im Klaren, aber wenn ich ehrlich bin …«
»Ja?«
»Weißt du, am liebsten würde ich die Welt aus den Angeln heben! Den Krebs besiegen, Menschen retten, ihr Schicksal im ganz großen Stil verändern. Ich habe das Gefühl, dass so viele Leute in meinem Leben etwas bewegt haben. Ich war so sehr auf andere angewiesen, und wenn diese Personen keine guten Absichten gehabt hätten, dann wäre ich jetzt nicht hier.«
Er lehnte sich zurück und musterte mich, schien irgendetwas in meinen Augen oder unter meiner Haut, tief in mir drin, zu suchen. Endlich sprach er wieder, mit langsamen, sorgfältig ausgewählten Worten:
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