Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
stand. Wie er dastand, die Haltung seiner Arme und Schultern, das alles ließ ihn kräftiger, stärker wirken. Dantes Foto hingegen sah irgendwie ein kleines bisschen … seltsam aus. Sein breites Grinsen war nicht mehr so strahlend. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich mir das einbildete oder es an unserer Kabbelei heute Morgen lag. Sein Bild war getrübt. Ich betrachtete es einen Moment und lehnte dann die anderen Porträts wieder daran. Auch wenn sich mir dabei die Zehennägel kräuselten, ging ich sie trotzdem noch einmal eins nach dem anderen durch. Aber nein, ich hatte nichts übersehen: Mein Bild war nicht dabei und Aurelias auch nicht. Wo steckten die bloß? Waren sie etwa verschont geblieben? Nicht so verzerrt wie der Rest? Oder sahen sie vielleicht noch schlimmer aus? Mit einer raschen, zittrigen Bewegung zog ich die Abdeckung wieder über die Rahmen und trat zurück. Stolpernd und strauchelnd behielt ich die Samtmasse im Auge, als würde sie mir womöglich hinterherkommen.
Ich drehte mich um, trat direkt den Rückweg zur Leiter an und kehrte in die Zivilisation zurück. Hier unten mit diesen entstellten Bildern hielt ich es keine Sekunde länger aus. Ich kletterte hoch, immer weiter, griff mit rauen Händen frenetisch nach jeder Sprosse, bis ich endlich mein Zimmer erreichte. Dort schlug ich die Schranktür hinter mir zu und blockierte sie wieder mit dem Schreibtischstuhl, dann rollte ich mich im Bett zusammen und schlang mir die Arme um die Knie. Ich machte die Augen zu und konzentrierte mich auf meinen Herzschlag, den ich so weit beruhigen wollte, dass ich hier keinen Infarkt bekam. Als mir das endlich gelang, streckte ich die Hand aus und holte das gefürchtete Buch aus meinem Nachttisch.
Unter dem heutigen Datum fand ich auf einer neuen Seite diesen Eintrag:
Die Angst darf dich nicht davon abhalten, nach Antworten zu suchen. Du weißt, wohin du gehen musst. Vertrau deinen Augen und Ohren. Wenn dir etwas nicht logisch erscheint, heißt das einfach nur, dass dir noch ein Puzzleteil fehlt. Sei vorsichtig und klug, aber mutig.
Ich schloss das Buch und legte es wieder an seinen Platz. Dieses Rätsel konnte nur eins bedeuten: Ich musste nach den beiden fehlenden Bildern Ausschau halten, und zwar jetzt sofort. Jetzt hieß es also, den Ort aufzusuchen, vor dem mich mein Bauchgefühl warnte: Es ging zurück in den Tunnel, der mich zu Aurelias Büro führte.
Es war anstrengend, aber nicht allzu sehr – beim Krabbeln taten mir die Muskeln weh und mir brannten die Knie, bis der Gang endlich so hoch wurde, dass ich mich aufrichten konnte, aber dann stand ich endlich vor den Gucklöchern. Inzwischen war es nach acht Uhr abends, und der Raum lag verlassen und dunkel da, abgesehen vom schwachen, butterigen Schein der Jugendstillampe auf dem Schreibtisch. Es war immer abgeschlossen, wenn Aurelia nicht da war. Aber ich musste da irgendwie rein, so einfach war das.
Ich schaltete die Taschenlampe wieder ein und leuchtete mit einer Hand um mich herum, erhellte meine modrige kleine Ecke. Mit der anderen befühlte ich die Wände, klopfte die rissigen Balken an der Seite und den seltsamen rauen Stein vor mir ab. Und dann stießen meine Finger auf eine Kante – einen merkwürdigen waagerechten Schnitt mitten durch das Gestein, und zwar auf Höhe meines Kinns. So etwas hatte ich in meinem Schrank schon einmal gesehen, also wickelte ich mir die Schlaufe der Taschenlampe ums Handgelenk und schob mit beiden Händen und aller Kraft. Und tatsächlich gab die Wand langsam nach. Ich stellte mich breitbeinig hin, stemmte mich mit dem ganzen Körper dagegen und drückte noch fester. Es erklang ein Knacken, als sich etwas löste, das jahrelang nicht benutzt worden war. Sanft rieselte Staub und Mörtel herab, und eine Luke von der Dicke eines Telefonbuchs begann sich zu bewegen. Jetzt übte ich nur noch leichten Druck aus, und sie schwang nach außen auf. Es handelte sich um eine schmale Tür mit Scharnieren auf der linken Seite. Ich reckte den Hals in den Raum, so gut es ging: Ich befand mich direkt über Aurelias Schreibtisch, und der Flachbildschirm bedeckte die Rückseite der Tür. Nachdem ich mehrmals vergeblich versucht hatte, mich am Sims hochzuziehen, nahm ich schließlich Anlauf.
Ich stapfte den dünnen Boden entlang, rannte auf die Wand zu, stieß mich mit dem Fuß ab und drückte mich mit den Händen auf der Kante hoch. Ich flog durch die Öffnung, landete in Aurelias Büro auf dem Boden und knallte mit dem Kopf
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