Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
jedoch größer als andere«, wandte ich leise und ebenso behutsam ein. Sie schaute weg.
»Natürlich. Und mein Weg war mit Sicherheit nicht perfekt. Aber wenn man nach Großem strebt, einfach alles will, dann muss man eben Opfer bringen, wird im Gegenzug jedoch reich belohnt. Und das haben wir verdient.« Sie tippte mit dem Finger auf die Zeitschrift. »Das weißt du doch sicher.«
»Vermutlich.« Sie hatte mich völlig aus dem Konzept gebracht. Aurelia war nie betörender gewesen. Plötzlich zeigte sie sich so verletzlich und gewährte mir diesen seltenen Einblick in ihre Vergangenheit. So etwas hätte niemanden kaltgelassen.
»Und deshalb möchte ich dir vorschlagen, dem Syndikat beizutreten, Haven. Und ich hoffe wirklich, dass du die Einladung annimmst.«
Mir fehlten die Worte. Besorgt runzelte ich die Stirn. Schließlich sprach sie in demselben offenen, innigen Tonfall weiter, redete mit mir wie mit einer Ebenbürtigen: »Du wärst unser jüngster Neuzugang und würdest innerhalb kürzester Zeit zu unserem mächtigsten Mitglied aufsteigen. So einfach ist das.«
Bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, stand sie geräuschlos auf.
»Ich brauche nicht jetzt sofort eine Antwort von dir. Sag mir einfach am Tag vor dem Abschlussball Bescheid. Denk gut darüber nach.« Sie strich ihr Kleid glatt und machte sich auf den Weg hinaus, blieb dann aber direkt hinter dem Stuhl stehen, auf dem ich so still und verwirrt saß. Sie beugte sich zu mir hinunter und legte die Hände genau auf die Stelle, an der meine Narben brannten. »Haven«, flüsterte sie, »denk bitte sehr, sehr sorgfältig nach.«
Sobald sie fort war, stand ich vom Tisch auf und rannte den ganzen Weg zur Galerie hinüber, wo ich Lance in unserem Büro antraf und ihm in allen Einzelheiten von unserem Gespräch berichtete.
Ich hatte damit angefangen, jeden Abend zwischen der Praktikumsarbeit und unseren nächtlichen Abenteuern in den Tunneln und Wänden des Hotels noch einmal Wort für Wort alle Einträge in dem Buch durchzugehen. Um zehn Uhr klopfte dann unweigerlich Lance an meine Tür. Ich ließ ihn herein, holte für jeden von uns einen Powerriegel aus unserem häufig aufgefüllten Vorrat, und dann kletterten wir entweder nach oben oder nach unten.
Aber heute erklang das Klopfen früher – es war noch nicht einmal neun –, und das schreckte mich so auf, dass ich zunächst durch den Spion sah. Es war gar nicht Lance, es war Lucian. Plötzlich war ich völlig starr und taub. Dort stand er nun in seinem perfekten Anzug und sah über seine Schulter, so als befürchtete er, es sei ihm jemand gefolgt. Er trommelte mit dem Fuß nervös auf dem Boden herum, und seine Finger zuckten. Ich hielt den Atem an und fragte mich, was wohl wäre, wenn ich einfach nicht aufmachte. Ich konnte vielleicht so tun, als wäre ich nicht da, bis er wieder ging. Mir kam noch einmal das Gespräch mit Aurelia in den Sinn. Warum war er hier? Hatte man ihn geschickt, damit er mich erledigte? Jetzt erklang draußen mein Name, nicht im üblichen verführerischen Tonfall, sondern viel weicher, er hörte sich fast wie ein Flüstern an: »Haven.« Ich schwieg, entfernte mich langsam von der Tür und versuchte dabei, so leise wie möglich zu sein. Lucian rüttelte am Türknauf. Mehr war gar nicht nötig: Meine Beine ergriffen die Flucht, ich raste zum Schrank und warf mich in den Schacht unter der Luke, kletterte so blitzschnell hinunter, dass mein Herz zu rasen begann. Aber obwohl mir das Blut in den Ohren dröhnte, übertönte es trotzdem nicht das Klicken des Schlosses und das Ächzen der Tür, die oben geöffnet wurde. Dann waren eindeutig fremde Schritte in meinem Zimmer zu hören, und wieder rief diese Stimme meinen Namen: »Haaaven?« Erneut war ich wie erstarrt und hing nun auf halber Höhe im Schacht. Es überkam mich siedend heiß, und ich konnte mich schon wieder nicht rühren. »Wenn du da bist, hab bitte keine Angst. Ich will dir nicht wehtun. Aber ich muss mit dir reden.«
Ich rief mir die Szene vor Augen, die ich da oben hinterlassen hatte. Die Schranktür hatte ich zwar hinter mir zugezogen, die Luke aber nicht zugemacht. Die ließ ich bei meinen Ausflügen eigentlich immer auf, weil ich Angst hatte, dass sie vielleicht einrastete und ich dort unten gefangen war. Sollte ich jetzt wieder hochkriechen und sie schließen? Das erschien mir zu riskant. Ich konnte mich nicht überwinden, nach oben zu steigen, also zwang ich meine Füße weiter hinunter, kletterte so
Weitere Kostenlose Bücher