Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
nichts und starrte sie nur mit ernstem Blick an. Sie studierte mich lange, und schließlich veränderte sich an ihrem Gesichtsausdruck etwas. Mit weniger starren Schultern als sonst lehnte sie sich jetzt zu mir vor.
»Vielleicht hast du den Eindruck, dass du noch nicht so ganz begreifst, was hier vor sich geht. Wahrscheinlich glaubst du … mich noch nicht so ganz zu verstehen.« Sie sprach jetzt langsam, mit so weicher Stimme, dass mich dieser Wandel ganz aus dem Konzept brachte. »Aber ich verstehe dich, Haven.« Sie verstummte, so als überlege sie, wie viel sie vor mir preisgeben wollte. »Ich war du. Einst war ich in jeder Hinsicht so wie du.« Als wir uns zum ersten Mal an diesem Tisch gegenübergesessen hatten, hatte sie auch etwas in der Art gesagt, aber damals war es mir eher wie Prahlerei vorgekommen. Jetzt lag eine gewisse Schwermut und Verletzlichkeit darin. Ich wollte ihr nicht glauben, ihre Worte nicht an mich, mein Herz oder meinen Verstand heranlassen, aber sie hatte mich mit dieser neuen Seite an sich völlig überrumpelt.
»Ich war wie du: zielstrebig, nachdenklich, ernst und unsicher. Ich hatte große Pläne und befürchtete, in meinem Streben übersehen zu werden, so wie man mich in vielen anderen Bereichen des Lebens übersah.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, blickte über meine Schulter hinweg ins Leere und dachte nach. Ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen – erzählte sie da die Wahrheit, oder war das alles nur Show? Diese zwiespältige Figur konnte ich kaum mit der Frau in Einklang bringen, die in ihrem Büro so gefährlichen Männern die Stirn bot. Ich war völlig durcheinander. Diese Aurelia kannte ich noch nicht, und ich war auf sie nicht vorbereitet gewesen.
»Ich wollte Macht, Einfluss und ein Zuhause, sehnte mich nach einem Ort, der mir ganz allein gehörte und den Menschen gern aufsuchen wollten. Menschen wie du und ich sind nirgendwo wirklich daheim«, behauptete sie, und ich war mir nicht sicher, was sie damit meinte. Aber vermutlich hieß das nur, dass es in ihrem Leben keine Joan gegeben hatte. »Ich hatte genug davon, mir ständig die Nase an den Scheiben platt zu drücken und das perfekte Leben der anderen zu bewundern. Stattdessen wollte ich, dass die Menschen mich so anschauten. Ich wollte nicht unsichtbar sein, so wie du vermutlich auch nicht.« Ich reagierte nicht.
Ungerührt fuhr sie fort: »Ich habe auch nicht dazugehört. Menschen werden in Schubladen gesteckt und sortiert, und dabei bleiben manche von uns eben auf der Strecke. Also habe ich mich in die Welt der Kunst, Musik und Geschichte geflüchtet, sie war mein Rückzugsort. Ich träumte davon, dass man sich eines Tages nicht mehr über meine Interessen lustig machen würde und ich stattdessen für meinen erlesenen Geschmack gerühmt würde. Irgendwann würde jeder ein Teil meiner Welt sein wollen. Jungen können herzlos sein, Mädchen aber wirklich grausam, wenn sie das Gefühl haben, dass du nicht wie sie oder ihnen womöglich sogar überlegen bist. Ich nehme an, das alles muss ich dir nicht erklären.« Ich wandte nur für einen Moment den Blick ab. »Und als mir eines Tages ein großer dunkler Fremder diese Möglichkeiten eröffnete, da war mir klar, dass ich mich nicht allein völlig neu erfinden konnte. Ich hatte nicht die Kraft, aufs College zu gehen und zu hoffen, dass ich dort endlich Menschen finden würde, die mich mochten. Ich wollte diese Veränderung sofort. Und ich habe es nie bereut …« Sie verstummte und fügte dann noch hinzu: »Zumindest kaum. Natürlich kann jeder Pfad manchmal steinig sein.« Sie atmete tief durch und setzte dann wieder an: »Und für so eine Entscheidung ist es manchmal notwendig, dass gewisse … Menschen … in den Hintergrund treten. Aber so ist das Leben.« Nein, so ist es eben nicht. Sie dachte offensichtlich an Neil.
Jetzt lehnte sie sich wieder zu mir vor und senkte die Stimme, um sich meiner Aufmerksamkeit zu versichern: »Auch ich habe die … Zeichen getragen, wenn du verstehst, was ich meine.« Obwohl sie sich mir gegenüber noch nie so sanft gezeigt hatte, fuhr ich bei diesen Worten zusammen. »Für uns ist kein Weg einfach – das solltest du wissen. Es gibt keine leichte, saubere, gute Alternative, für die man keine Opfer bringen muss. Also sollten wir doch die wählen, die es uns erlaubt, uns zu unserem vollen Potenzial zu entfalten. Alles hat seine Vor- und Nachteile.«
Jetzt konnte ich nicht länger den Mund halten. »Einige davon sind
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