Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
statt wegzulaufen – ein Überlebensinstinkt, mit dem ich eigentlich gerechnet hätte – rannte ich auf das schmerzerfüllte Heulen zu, näherte mich dem unbekannten Schrecken. Ich schob mich durch die brabbelnde Menge in der Lobby und durch die Drehtür hinaus, bis ich unter der Markise und ganz vorn bei den Schaulustigen stand. Seltsamerweise spürte ich die arktische Kälte kaum an meiner nackten Haut. Auf dem roten Teppich vor dem Hotel lag ein lebloser Körper. Wenn man das überhaupt so nennen konnte.
Das lange dunkle Haar und die Stiefel mit hohen Absätzen verrieten mir, dass es sich um eine Frau handeln musste. Selbst im Krankenhaus hatte ich noch nie jemanden gesehen, der so zugerichtet war, sie wirkte ja kaum noch wie ein Mensch. Ihre Haut war grau, und soweit ich das erkennen konnte, war jeder einzelne Zentimeter davon mit Beulen, schwärenden Wunden und Schnitten übersät. Einige Teile ihres Körpers sahen verbrannt und verkohlt aus. Das Schlimmste daran: An ihrer rechten Schulter klaffte in ihrer Bluse ein Brandloch, das Knochen, Muskeln und Gewebe freilegte. Es erinnerte an die Fleischtheke im Supermarkt. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich musste den Blick abwenden. Niemand schien irgendetwas zu tun, selbst ich war wie erstarrt. In den wenigen langen Minuten seit dem Schrei stand jeder einfach nur zusammengekauert, schweigend und verängstigt da. Aber dann klatschte auf einmal ganz hinten jemand. Aurelia marschierte zur Tür heraus, die Menge teilte sich, ihre zarten Hände applaudierten und lösten damit auf ihrem Weg brandenden Beifall aus, als jeder mit einfiel. Sie postierte sich unter der Wärmelampe direkt vor der Drehtür – bei dem in sich zusammengesunkenen Körper – und wandte sich mit einem Lächeln an die Gäste.
»Wir hoffen sehr, dass Ihnen der Abend und die Show gefallen haben.« Ihre Stimme war laut und deutlich zu hören, während sie mit ausgestrecktem Arm auf die Figur am Boden deutete. Bei diesem Stichwort erschienen durch die Drehtür vier Männer in Hoteluniform – Syndikat-Vertreter, unter ihnen Beckett -, umrundeten den Körper, hoben ihn hoch, sicherten jede einzelne zerbrechliche Extremität und trugen ihn – sie – dann durch den Seiteneingang davon.
Aurelia fuhr fort, wandte sich wieder an die Menge: »Danke, dass Sie unsere Eröffnung mit uns gefeiert haben. Wir freuen uns darauf, bald für Sie da zu sein. Und jetzt wünsche ich Ihnen allen eine gute Nacht!« Aus der Gruppe erklang wilder Jubel, und Aurelia schob sich wieder durch die fröhliche Meute.
Danach ging jeder seiner Wege, zog sich entweder oben in die eleganten Zimmer zurück, gab den Hoteldienern ein Zeichen, den Wagen vom Parkplatz herzubringen, oder stieg in ein wartendes Taxi oder eine Limousine. Das Lächeln kehrte auf die Gesichter zurück, man fing wieder an zu plaudern, und ich schnappte hier und dort Bruchstücke von Unterhaltungen auf, in denen man den gelungenen Abend lobte. »Ich hätte zwar eher eine Schießerei erwartet, aber das war auf jeden Fall gewagt und anspruchsvoll«, fand eine steife Dame der feinen Gesellschaft im smaragdgrünen Abendkleid.
»Das sah so echt aus«, bemerkte eine junge Frau im Flapper-Kostüm.
»Performancekunst: wirklich ausgefallen«, nickte ein älterer Herr mit unglaublich ausgebeulter karierter Hose, die ich aus einem meiner Bücher als die clownhaften »Oxford Bags« der 1920er wiedererkannte.
Ich stand einfach nur da, während sich die Menge langsam verlief, und verdaute erst einmal diese Achterbahnfahrt der Gefühle, die von einem Extrem (Glückseligkeit) zum anderen (Panik) und dann zu einem Mittelding umgeschlagen waren (also ist jetzt doch alles okay?). Ich war völlig fertig.
Als mir die klirrende Kälte zu viel wurde, ging ich schließlich wieder hinein. Einige Gäste bestellten sich im Parlor noch einen Schlummertrunk oder aßen im Capone einen Mitternachtssnack. Ich watete durch die Menschenmenge, ließ mich treiben und hielt nach einem bekannten Gesicht Ausschau –Dante, Lance oder Lucian –, denn ich wollte jetzt nicht allein sein. Irgendwann lockerten die Männer ihre Krawatten, die Frauen schüttelten ihre Haare aus, streiften die Schuhe ab, und mit der Zeit zogen sich immer mehr Gäste auf ihre Zimmer zurück. Nach einer halben Stunde vergeblichen Suchens tat ich endlich das Gleiche.
Teil Zwei
15
Immer schön cool bleiben
A m nächsten Morgen fühlte sich das Hotel irgendwie anders an. Obwohl ich früher auf war als viele der
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