Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
wegen des Stromausfalls in heller Aufregung. Ich brachte die Kamera zurück ins Büro, schloss sie in der Schublade ein und griff dann nach meiner Handtasche, die ich hier liegen gelassen hatte. Da es in der Galerie so still und friedlich war, beschloss ich, ein paar Minuten zu verschnaufen, meine Gedanken zu ordnen und mich noch ein wenig an dem unverhofften Glücksgefühl zu berauschen. Ich hatte nämlich den Eindruck, dass es mit jeder Minute ohne Lucian mehr verblasste und dass ein Raum voll lauter Menschen den Prozess noch beschleunigen würde.
Ganz hinten in der Galerie begann ich langsam eine Runde zu drehen. Das Wandbild, das ich mir heute Abend noch nicht wieder angesehen hatte, war wirklich besser geworden als erwartet. Es wirkte leidenschaftlicher und viel professioneller als in dem Moment, als Lance und ich es fertiggestellt und unsere Pinsel verstaut hatten. Darin lag so viel Leben – und Tod, würde ich mal sagen. Es erschien mir fast unmöglich, dass sich unser Beitrag so nahtlos in Calliopes Arbeit eingefügt hatte. Ich schlenderte durch den Ausstellungsraum und genoss meine Zeit allein, kehrte dabei in Gedanken aber immer wieder zum Zwischenfall im Tunnel zurück. Wohin war Lucian nur verschwunden? Ich dachte an den Moment, an dem er all die seltsamen Dinge zu mir gesagt und sich dann selbst zu dem Ausflug mit mir in den Tresor eingeladen hatte. Hatte er da schon vorgehabt, mich zu küssen?
Mir wurde klar, dass ich schon seit einiger Zeit angenehm benommen ins Nichts starrte. Im Glas vor Aurelias Foto konnte ich ganz schwach mein Spiegelbild erkennen, auf dem Porträt reflektierte ihr schwarzes Kleid meine Züge, und es schien so, als sähe mein Lippenstift noch ganz in Ordnung aus. Ein weiteres Wunder. Dann fokussierte ich wieder die Fotografie und wurde nur daran erinnert, wie viel schöner als ich Aurelia doch war. Aber da blieb mein Blick an etwas hängen, auf ihrer Wange entdeckte ich einen dunklen Fleck. Was war das denn? Das sah ja fast aus wie ein Soßenklecks von Dantes und Etans zauberhaften Canapés. Genau aus diesem Grund war es mir gar nicht recht gewesen, dass man bei der Gala Essen und Trinken in der Galerie erlaubt hatte, aber bei dem Thema hatte ich natürlich kein Mitspracherecht gehabt. Ich lehnte mich weiter vor und streckte den Finger aus, um den hässlichen Spritzer zu entfernen – und dann erstarrte ich.
Es war viel schlimmer, als ich befürchtet hatte. Dieses Ding, der Fleck, klebte nicht an der Oberfläche, wo man es wegwischen konnte: Es befand sich tatsächlich in ihrem Gesicht. Es war etwa so groß wie eine Vierteldollarmünze und hatte einen rötlich-gelben Rand wie eine schwelende Wunde. Die hatte ich bei ihr in Person noch nie gesehen – das wäre mir doch aufgefallen – und auf dem Porträt auch nicht. Andererseits hatte ich mir ihre Bilder auch gar nicht so genau angeschaut, weil die so perfekt gewesen waren. Aber diese Vergrößerung war natürlich riesig. Hatte Aurelia selbst das etwa auch übersehen? Es war wirklich übel, ich begriff nicht, wie uns das entgangen sein konnte. Und so aus der Nähe sah die Aufnahme ohnehin schlechter aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Darauf hatte Aurelia nämlich erste Fältchen und blutunterlaufene Augen mit dunklen Ringen.
Plötzlich fand ich mein eigenes Bild gar nicht mehr so schlimm. Ich sah es mir noch einmal an. Die Narbe störte mich jetzt kaum noch – vielleicht war das vorhin einfach nur der Schock gewesen. Und dabei war mir gar nicht aufgefallen, wie sehr meine Haut auf dem Porträt strahlte, als ergieße sich ein inneres Licht aus jeder Pore. Und mein Gesichtsausdruck war auch so sanft. Ich wirkte zufrieden in meiner Haut. Gar nicht schlecht. Vielleicht lag es auch nur an meinem gestärkten Selbstbewusstsein, an den schwindelerregenden Nachwirkungen des Kusses.
Ich schwebte zu Lucians Bild hinüber. Er war natürlich atemberaubend, aber bei näherem Hinsehen wirkten seine Augen ein wenig müde – oder vielleicht senkte er einfach nur verführerisch die Lider? Ich war durcheinander, konnte mir die Sache aber nicht mehr in Ruhe durch den Kopf gehen lassen.
Ein Schrei zerriss nämlich die Luft und zerstörte augenblicklich die traumgleiche Atmosphäre des Abends. Es lief mir kalt über den Rücken. Dieser Laut erinnerte mich an den Vorfall in der Drogerie: Es war der gleiche furchteinflößende Schrei einer Frau, ein schrilles Warnsignal.
Meine Füße setzten sich ohne mein Zutun einfach in Bewegung. Aber
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