Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
Drehtür, des roten Teppichs und der insignienverzierten Markise gab, und ich bekam langsam wieder einen klaren Kopf. Ich wünschte mir viel mehr freie Zeit wie diese, um so in der Stadt herumzulaufen, während jeder andere, den ich kannte, in der Festung einer Vorortschule gefangen war. Wenn ich mir das Ganze mal in Ruhe und mit etwas Abstand durch den Kopf gehen ließ und die Ungereimtheiten in meinem Leben – die mich in Angst und Schrecken versetzten – einfach ausklammerte, dann war doch sonnenklar, was für eine aufregende neue Welt sich mir hier bot. Lance empfand es offenbar ähnlich, denn er hatte trotz der bitteren Kälte nichts dagegen, auf dem Weg zur L einen kleinen Abstecher zu machen.
Jetzt rückten die Karussells des Navy Piers langsam näher, und das Riesenrad erhob sich in den weißen Winterhimmel.
»Das kommt mir gerade vor wie Schuleschwänzen«, sagte ich.
»Geht mir genauso. Umso besser, oder?«
»Auf jeden Fall.« Ich wunderte mich immer noch über diese kleine Rebellion, schließlich hielten wir uns sonst peinlich genau an Regeln.
»Hey, dreht sich das etwa immer noch?« Lance deutete zu dem Riesenrad in der Ferne hinauf. »Selbst bei dem Wetter?«
»Sicher, an 363 Tagen – glaube ich – im Jahr. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die nur an Thanksgiving und Weihnachten geschlossen haben.«
»Hm.« Nachdenklich starrte er ins Leere, die behandschuhten Finger in den Taschen vergraben.
»Damit bin ich schon seit Jahren nicht mehr gefahren.« Auf Achterbahnen war ich zwar nicht scharf, aber gegen das Riesenrad am Navy Pier hatte ich nichts einzuwenden, weil man da nicht mit den Füßen in der Luft hing und so rumgeschleudert wurde. Das war eine viel zivilisiertere Angelegenheit – man bekam seine eigene kleine Gondel, einen fast völlig geschlossenen Raum, wie ein altmodisches Zugabteil oder eine Pferdekutsche. Das fühlte sich irgendwie abgeschirmter, sicherer an. Eine Art Schutzhülle, die uns in den Himmel beförderte. Und sich dabei unglaublich langsam bewegte – genau mein Tempo.
»Ich bin noch nie damit gefahren«, gab Lance verlegen zu.
»Wieso das denn? Du bist doch hier aufgewachsen, oder?«
»Ja, warum?«
»Dann ist das völlig inakzeptabel. Komm mit, das sind nur ungefähr sieben Minuten.«
»Echt jetzt?«
»Klar, warum nicht?«
Er zuckte mit den Achseln, was ich als Ja auffasste, und tatsächlich, unsere Füße trugen uns weiter die Grand Avenue entlang, obwohl wir doch eigentlich umdrehen und zurückgehen sollten. Mitten im Winter war auf dem Pier nicht so viel los wie im Sommer, aber es waren trotzdem erstaunlich viele Leute unterwegs, die offenbar fest entschlossen waren, die Minusgrade zu ignorieren, Hot Dogs aßen und ihr Gesicht in Zuckerwatte versenkten. Das Riesenrad blieb nie stehen – worin ich immer schon eine hübsche Metapher gesehen hatte, wenn ich auch nicht so genau wusste, wofür. Vielleicht für das Dasein an sich? Auch im Leben rückten immer neue Veränderungen und Gelegenheiten näher, weil sich alles immer weiter drehte, während ein Menschenstrom ein- und wieder ausstieg. Ob die restlichen Wartenden wohl auch solche Überlegungen anstellten?
Aber die standen vermutlich mit beiden Füßen auf dem Boden und genossen einfach ihren Tag im Vergnügungspark. In meinem Kopf hingegen sausten die Gedanken ständig in tausend verschiedene Richtungen. Ich konnte manchmal ganz schön anstrengend sein.
Endlich schwebte unsere Gondel sanft zu uns herab und war jetzt auf einer Höhe mit der Rampe. Ich stieg als Erste ein und setzte mich auf die hölzerne Bank, Lance ließ sich mir gegenüber nieder. Die Kabine wurde geschlossen, und dann ging es hinauf, Zentimeter für Zentimeter schoben wir uns in die Höhe, immer weiter und weiter, während eisige Luft durch den Spalt über der Tür ins Innere drang. Durch das Plexiglas beobachtete ich, wie die Menschen und Häuser am Boden zu Puppenhausgröße zusammenschrumpften.
»Also sieben Minuten?«, fragte Lance.
»Genau. Uhrenvergleich?« Das war nur ein Witz.
»Und wie hoch ist das Ganze, so 45 Meter?«
»Ich denke schon.«
»Hm.« Sein Blick verlor sich irgendwo am Himmel. Inzwischen wusste ich, dass das sein Denkergesicht war. »Sieben Minuten für eine Umdrehung bei einem Durchmesser von 45 Metern, das würde bedeuten, wir bewegen uns mit einer Geschwindigkeit von …«
»Nein«, unterbrach ich ihn entschlossen. »Mathe verboten, du verpasst ja die ganze Aussicht. Los, guck mal!« Ich deutete auf die
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