Das dunkelste Blau
davon wußte, aber Mathilde fiel es sofort auf. Ich sah, wie sie die Augenbrauen hochzog und verdrehte den Hals, um an meinem Rücken hinabzusehen.
»Das willst du nicht wissen«, sagte ich.
Sie lachte. »Ein Leben voller Drama, was?«
»Früher war das nicht so, wirklich!«
Mathilde sah auf die Uhr. »Gehen wir, Monsieur Jourdain wartet auf uns«, sagte sie. Sie öffnete den Schrank im Flur, holte die Sporttasche heraus und gab sie mir.
»Du hast ihn wirklich angerufen?«
»Hör zu, Ella, er ist ein guter Mensch. Jetzt, wo er weiß, daß deine Familie aus der Gegend stammt, wird er dich wie seine lange verlorene Nichte aufnehmen.«
»Ist Monsieur Jourdain der Mann, der mich Mademoiselle genannt hat? Der mit den schwarzen Haaren?« fragte Sylvie.
»Nein, das war Jean-Paul. Monsieur Jourdain war der alte Mann, der vom Barhocker gefallen ist. Weißt du noch?«
»Ich mochte Jean-Paul. Sehen wir ihn auch?«
Mathilde grinste mich an. »Schau, das ist sein Hemd«, sagte sie, während sie an einem Hemdzipfel zog.
Sylvie sah zu mir hoch. »Und warum trägst du es dann?« Ich wurde rot, und Mathilde lachte.
Es war schönes Wetter, heiß in Mende, aber kühl und frisch, je weiter wir in die Berge fuhren. Wir sangen die ganze Strecke hindurch, denn Sylvie brachte mir alle Lieder bei, die sie in ihrem Sommerlager gelernt hatte. Es war komisch, auf dem Weg zu einem Begräbnis zu singen, aber nicht falsch. Wir brachten Marie nach Hause.
Als wir in Le Pont de Montvert vor der mairie hielten, kam Monsieur Jourdain sofort zur Tür. Er schüttelte uns allen die Hand, sogar Sylvie, und hielt meine einen Augenblick lang fest. »Madame«, sagte er und lächelte mich an. Er machte mich immer noch nervös; vielleicht wußte er das, denn sein Lächeln hatte etwas Verzweifeltes, wie ein Kind, das als Erwachsener akzeptiert werden möchte.
»Trinken wir Kaffee«, sagte er eilig und führte uns ins Café. Wir bestellten Kaffee und für Sylvie Limonade. Sylvie bliebnicht lange am Tisch, als sie die Katze im Café entdeckt hatte. Wir saßen in befangenem Schweigen um den Tisch herum, bis Mathilde auf den Tisch schlug und rief: »Die Karte! Ich hole sie schnell aus dem Auto. Wir wollen Ihnen zeigen, wo wir hingehen.« Sie sprang auf und ließ uns allein.
Monsieur Jourdain räusperte sich; einen Augenblick dachte ich schon, daß er ausspucken würde. »Hören Sie, La Rousse«, fing er an. »Sie erinnern sich, wie ich sagte, ich würde versuchen, etwas über die Familie in Ihrer Bibel herauszufinden?«
»Ja.«
» Alors , ich habe jemanden gefunden.«
»Was, einen Tournier?«
»Nein, keinen Tournier. Ihr Name ist Elisabeth Moulinier. Sie ist die Enkelin eines Mannes, der in l’Hôpital, einem Dorf in der Nähe, gewohnt hat. Es war seine Bibel. Sie hat sie hergebracht, als er gestorben ist.«
»Haben Sie ihren Großvater gekannt?«
Monsieur Jourdain schürzte die Lippen. »Nein«, sagte er kurz.
»Aber – ich dachte, Sie kennen alle hier in der Gegend. Das hat Mathilde wenigstens gesagt.«
Er runzelte die Stirn. »Er war ein Katholik«, murmelte er.
»Ach, Herrgott noch mal!« stieß ich hervor.
Er sah verlegen, aber auch störrisch drein.
»Na, egal«, murmelte ich und schüttelte den Kopf.
»Jedenfalls habe ich dieser Elisabeth gesagt, daß Sie heute hier sind. Sie kommt, um Sie kennenzulernen.«
»Das ist –« Was ist es, Ella? dachte ich. Großartig? Willst du wirklich etwas mit dieser Familie zu tun haben?
»Das war nett von Ihnen, es zu arrangieren«, sagte ich. »Danke schön.«
Mathilde kam mit der Karte zurück, und wir breiteten sie auf dem Tisch aus.
»La Baume du Monsieur ist ein Hügel«, erklärte MonsieurJourdain. »Es gibt ein paar Ruinen von einem Hof da, sehen Sie?« Er zeigte auf ein winziges Zeichen. »Gehen Sie schon mal los, und ich bringe Madame Moulinier dann dort hin, in ein oder zwei Stunden.«
Als ich den Wagen an der Straßenseite stehen sah, staubig und klapprig, verkrampfte sich mein Magen. Mathilde, dachte ich. Sie macht wirklich gerne Anrufe. Ich sah sie an. Sie parkte hinter dem anderen Wagen, versuchte, eine Unschuldsmiene aufzusetzen, aber ich sah die Spuren eines selbstgefälligen Grinsens. Als unsere Blicke sich begegneten, zuckte sie die Achseln.
»Warum gehst du nicht schon mal vor?« sagte sie. »Sylvie und ich wollen uns den Fluß ansehen, nicht wahr, Sylvie? Wir kommen später nach. Geh schon.«
Ich zögerte, nahm dann die Sporttasche, eine Schaufel und die Karte und
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