Das dunkelste Blau
sah sie aus wie ein gelber Schmetterling, der hin- und herflatterte. Als sie uns sah, kam sie in einer schnurgeraden Linie auf uns zugelaufen.
»Jean-Paul!« rief sie. Sie rannte zu uns und stellte sich neben ihn.
Er hockte sich neben sie. »Bonjour, Mademoiselle«, sagte er. Sylvie kicherte und klopfte ihm auf die Schulter.
»Habt ihr zwei schon gegraben?« Mathilde stakste in ihren pinkfarbenen Pumps über die Steine und schwang ein gelbes panier . »Salut, Jean-Paul« , sagte sie und grinste ihn an. Er lächelte zurück. Plötzlich dachte ich, daß ich, wenn ich einen Funken Vernunft hätte, zurücktreten würde und sie zusammensein ließe, damit Mathilde ein wenig Spaß hätte und Sylvie einen Vater. Das wäre dann mein Opfer, eine Wiedergutmachung für die Sünden meiner Familie sozusagen.
Ich trat einen Schritt zurück. »Ich suche nach einer Stelle, wo wir die Knochen begraben können«, verkündete ich. Ich streckte meine Hand aus. »Sylvie, willst du mitkommen?«
»Nein«, sagte Sylvie. »Ich will hierbleiben, bei Jean-Paul.«
»Aber – vielleicht sollten wir deine Mutter ja mit Jean-Paul hierlassen.«
Sofort merkte ich, daß ich einen Fehler gemacht hatte. Mathilde fing mit ihrem kreischenden Lachen an.
»Wirklich, Ella, du bist manchmal so dumm!«
Jean-Paul sagte nichts, zog nur eine Zigarette aus seiner Hemdtasche und zündete sie mit einem Grinsen an.
»Ja, ich bin dumm«, murmelte ich auf englisch. »Sehr, sehr dumm.«
Wir einigten uns alle auf den Ort, eine mit Gras bewachsene Stelle neben einem Felsen, der die Form eines Pilzes hatte, in der Nähe der Ruine. Er würde immer leicht zu finden sein.
Jean-Paul fing an zu graben, während wir in der Nähe saßen und unseren mitgebrachten Lunch verzehrten. Dann war ich an der Reihe mit der Schaufel, dann Mathilde, bis wir ein Loch gegraben hatten, das über einen halben Meter tief war. Ich legte die Knochen hinein. Wir hatten breit genug gegraben für zwei, und obwohl Jean-Paul nur die Zähne in der Ruine gefunden hatte, legte ich sie so hin, als wären die Knochen des ganzen Körpers auch dabei. Die anderen sahen zu. Sylvie flüsterte mit Mathilde. Als ich fertig war, zog ich einen blauen Faden aus den Überresten des Kleides und steckte ihn in meine Tasche.
Sylvie kam zu mir. »Maman sagt, daß ich dich fragen soll«, fing sie an. »Darf ich etwas mit Marie begraben?«
»Was denn?«
Sylvie zog das Stück Lavendelseife aus ihrer Tasche.
»Ja«, sagte ich. »Nimm sie zuerst aus dem Papier. Willst du, daß ich sie für dich hineinlege?«
»Nein, ich will es selber machen.« Sie legte sich neben das Grab, streckte den Arm aus und ließ die Seife an ihren Platz fallen. Dann stand sie auf und wischte sich die Erde von ihrem Kleid.
Ich wußte nicht, was ich als nächstes tun sollte: Ich hatte das Gefühl, daß ich etwas sagen sollte, wußte aber nicht, was. Ich sah zu Jean-Paul hin; zu meinem Erstaunen hatte er den Kopfgesenkt, die Augen geschlossen und sprach lautlos vor sich hin. Mathilde tat das gleiche, und Sylvie machte es ihnen nach.
Ich blickte nach oben und sah einen Vogel hoch über uns, der so mit seinen Flügeln schlug, daß er in der Luft stand.
Jean-Paul und Mathilde bekreuzigten sich und öffneten gleichzeitig die Augen. »Seht«, sagte ich und zeigte nach oben. Der Vogel war weg.
»Ich hab ihn gesehen«, verkündete Sylvie. »Keine Sorge, Ella, ich hab den roten Vogel gesehen.«
Nachdem wir die Erde eingefüllt hatten, türmten wir kleine Steine auf dem Grab auf, um Tiere fernzuhalten. Wir bauten eine Pyramide, die ungefähr sechzig Zentimeter hoch war.
Gerade waren wir fertig geworden, als wir einen Piff hörten und uns umsahen. Monsieur Jourdain stand bei den Ruinen und hatte eine junge Frau dabei. Sogar auf die Entfernung konnte man sehen, daß sie ungefähr im achten Monat schwanger war. Mathilde schaute mich an, und wir grinsten. Jean-Paul sah uns verwundert an.
O Gott, dachte ich. Ich muß ihm das alles noch erzählen. Mein Magen zog sich zusammen.
Als sie näherkamen, stolperte die Frau. Ich stand wie angewurzelt da.
»Mon Dieu!« keuchte Mathilde.
Sylvie klatschte in die Hände. »Ella, du hast uns gar nicht erzählt, daß deine Schwester auch kommt!«
Sie kam näher und blieb vor mir stehen. Wir betrachteten uns gegenseitig: Das Haar, die Gesichtsform, die braunen Augen. Dann taten wir beide einen Schritt vor und küßten uns die Wangen: Einmal, zweimal, dreimal.
Sie lachte. »Ihr Tourniers küßt euch immer
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