Das dunkelste Blau
ein, direkt vor ihren Nasen!
Plötzlich löste sich Pascale von Isabelles Seite und verschwand hinter die Kirche. Wie kann Gaspard nicht sehen, daß mit seiner Tochter etwas nicht in Ordnung ist? dachte Isabelle, als Gaspard weiter sprach und lachte.
Einen Moment später folgte sie ihr. Pascale hatte sich erbrochen, lehnte an der Kirchenmauer und wischte sich zitternd den Mund ab. Isabelle bemerkte ihre Blässe und nickte leicht. Dritter Monat, sagte sie sich. Und sie hat keinen Mann.
– Isabelle, du warst eine Hebamme, nicht? sagte Pascale schließlich.
Isabelle schüttelte den Kopf.
– Meine Mutter brachte es mir bei, aber Etienne – seine Familie ließ mich nicht weitermachen, als wir heirateten.
– Aber du weißt Bescheid über – über Kinder, und –
– Ja.
– Und wenn – wenn das Kind verschwindet, weißt du darüber auch Bescheid?
– Du meinst, wenn Gott will, daß das Kind verschwindet?
– Ich – Ja, das ist es, was ich meine. Wenn Gott es will.
– Ja, darüber weiß ich Bescheid.
– Gibt es da etwas – ein besonderes Gebet?
Isabelle dachte einen Augenblick nach.
– Komm in zwei Tagen zur Schlucht und wir beten gemeinsam.
Pascale zögerte.
– Es war in Lyon, stieß sie hervor. Als wir weg wollten. Sie waren so betrunken. Papa weiß nichts von –
– Und er wird nichts erfahren.
Isabelle ging tief in den Wald, um Wachholder und Gartenraute zu finden. Als Pascale sie zwei Tage später traf, zwischen den Felsen oben an der Schlucht, gab Isabelle ihr eine Paste zu essen, kniete dann mit ihr nieder und betete zur heiligen Margareta, bis der Boden blutrot war.
Das war das erste Geheimnis ihres neuen Lebens.
An ihrem ersten Weihnachtsfest in Moutier entdeckte Isabelle, daß die Jungfrau auf sie gewartet hatte.
Es gab zwei Kirchen. Die Anhänger Calvins hatten die katholische Kirche von Saint Pierre eingenommen, die Bilder der Heiligen verbrannt und den Altar umgedreht. Die Stiftsherren waren geflohen, und damit hörte das Kloster, das dreihundert Jahre lang hier gestanden und viele Wunder gesehen hatte, auf zu bestehen. Die zum Kloster gehörige Eglise de Chalières wurde nun für die Gemeinde von Perrefitte, einem kleinen Weiler neben Moutier, benutzt. Viermal im Jahr, an den hohen Feiertagen, besuchten die Dorfleute aus Moutier den Morgengottesdienst in Saint Pierre und den Nachmittagsgottesdienst in Chalières.
An diesem ersten Weihnachtsfest drängten die Tourniers sich in die winzige Kapelle, in schwarzen Kleidern, die Pascale und Gaspard ihnen geliehen hatten. Es war so voll, daß Isabelle auf Zehenspitzen stehen mußte, um den Pfarrer sehen zu können. Bald gab sie es auf und sah sich statt dessen die Wandmalereien über ihm an. Sie bedeckten die Wände des Chors, grün und rot und gelb und braun, und sie stellten auf der gewölbten Decke Christus dar, wie er das Buch des Lebens hielt, die zwölf Apostel in Gemälden unter ihm. Abgesehen von dem farbigen Glas undder Statue der Jungfrau in ihrer Kindheit hatte sie nie Schmuck in einer Kirche gesehen.
Wieder auf Zehenspitzen, um einen Blick auf die Figuren, die in Augenhöhe gemalt waren, zu erhaschen, unterdrückte sie ein Aufkeuchen. Rechts vom Pfarrer war ein verblaßtes Bild der Jungfrau, die traurig in die Ferne blickte. Obwohl Isabelles Augen sich mit Tränen füllten, beherrschte sie ihr Gesicht. Sie sah zum Pfarrer hin, und nur ab und zu wagte sie einen schnellen Blick zum Wandgemälde.
Die Jungfrau sah sie an und lächelte kurz, bevor sie ihren trauernden Ausdruck wieder aufnahm. Niemand außer Isabelle hatte es gesehen.
Das war das zweite Geheimnis.
Seither eilte sie an Festtagen immer früh nach Chalières, um so nah wie möglich bei der Jungfrau stehen zu können.
Die Frühlingssonne brachte das dritte Geheimnis. Über Nacht schmolz der Schnee, und es bildeten sich Wasserfälle, die von den umliegenden Bergen herabrauschten und den Fluß überfluteten. Die Sonne kam wieder heraus, der Himmel wurde blau, das Gras war zum Leben erwacht. Sie konnten die Tür und die Fenster offenlassen, so daß die Kinder und der Rauch nach draußen entflohen. Etienne streckte sich in der Sonne wie eine Katze und lächelte Isabelle kurz an. Sein graues Haar ließ ihn alt aussehen.
Isabelle freute sich über die Sonne, aber sie machte sie auch wachsam. Jeden Tag nahm sie Marie mit in den Wald und untersuchte ihr Haar, wobei sie alle roten Strähnen ausriß. Marie stand geduldig da und schrie nie bei dem schmerzhaften
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