Das dunkelste Blau
ich wollte fragen – Ihr wart in Alès?
– An Weihnachten, ja. Warum, habt Ihr eine Botschaft für mich?
– Meine Schwägerin und ihr Mann sind dort – könnten dort sein. Susanne Tournier und Bertrand Bouleaux. Sie haben eine Tochter, Deborah, und vielleicht ein Baby, so Gott will.
Zum ersten Mal war der Händler still und dachte nach. Er schien all die Gesichter und Namen, die er auf seinen Reisen gesehen und gehört und in seinem Gedächtnis aufbewahrt hatte, zu durchsuchen.
– Nein, sagte er schließlich, ich habe sie nicht gesehen. Aber ich werde für Euch nach ihnen suchen. In Alès. Und Euer Name?
– Isabelle. Isabelle du Moulin. Und mein Mann, Etienne Tournier.
– Isabella, che bella . Ein wunderschöner Name, den ich nicht vergessen werde! Er lächelte ihr zu. Und Euch zeige ich auch die wunderbarste Ware, die ich habe, etwas ganz Besonderes. Er sprach leiser. Très cher – den meisten Leuten zeige ich das nicht.
Er führte Isabelle um seinen Wagen herum und fing an, zwischen Stoffbündeln herumzugraben, bis er einen Ballen aus weißem Leinen hervorzog. Jacob tauchte neben Isabelle auf und der Händler winkte ihn zu sich.
– Komm her, du siehst dir gerne Sachen an! Ich sehe, wie deine Augen alles beobachten. Nun sieh dir das an.
Er stand über ihnen und schüttelte das weiße Leinen aus. Heraus fiel das vierte Geheimnis, die Farbe, von der Isabelle gedacht hatte, daß sie sie nie wieder sehen würde. Sie stieß einen Schrei aus und rieb den Stoff zwischen den Fingern. Es war weiche Wolle, sehr tief gefärbt. Sie senkte den Kopf und berührte den Stoff mit ihrer Wange.
Der Händler nickte.
– Ihr kennt dieses Blau, sagte er mit Befriedigung. Ich wußte, daß Ihr dieses Blau kennt. Das Blau der Jungfrau von San Zaccaria.
– Wo ist denn das? Isabelle strich den Stoff glatt.
– Oh, das ist eine wunderschöne Kirche in Venezia. Wißt Ihr, es gibt eine Geschichte zu diesem Blau. Der Weber, der dieses Tuch hergestellt hat, hat es nach dem Umhang der Jungfrau angefertigt, die in San Zaccaria auf einem Gemälde zu sehen ist. Er hat es gemacht, um ihr für ein Wunder zu danken.
– Was für ein Wunder? Jacob sah den Händler mit großen braunen Augen an.
– Der Weber hatte eine kleine Tochter, die er sehr liebte, und eines Tages ist sie verschwunden, wie es mit Kindern in Venezia öfters geschieht. Sie fallen in die Kanäle, weißt du, und dann ertrinken sie. Der Trödler bekreuzigte sich.
– Also, die kleine Tochter ist nicht nach Hause gekommen, und der Weber, der ging nach San Zaccaria, um für ihre Seele zu beten. Er betete stundenlang zur heiligen Jungfrau. Und als er nach Hause kommt, findet er seine Tochter dort, lebendig! Und aus Dankbarkeit macht er dieses Tuch, dieses besondere Blau, siehst du, damit seine Tochter es trägt und für immer sicher unter dem Schutz der Jungfrau lebt. Andere haben versucht, es nachzumachen, aber niemand hat es geschafft. Es ist ein Geheimnis in der Farbe, wißt Ihr, und nur sein Sohn kennt es jetzt. Ein Familiengeheimnis.
Isabelle sah den Stoff an, dann den Händler, und hatte Tränen in den Augen.
– Ich habe nichts, sagte sie.
– Euch, Bella , Euch gebe ich etwas Kleines. Ein Geschenk, ein bißchen Blau.
Er beugte sich über den Stoff und zog von einem ausgefransten Ende ein Stück Faden heraus, das so lang war wie ihr Finger. Mit einer tiefen Verbeugung überreichte er es ihr.
Isabelle dachte oft an den blauen Stoff. Es gab für sie keine Möglichkeit, ihn zu kaufen; selbst wenn sie könnte, würden Etienne und Hannah ihn nicht im Haus dulden.
– Katholisches Tuch! würde Hannah schimpfen, wenn sie sprechen würde.
Sie verbarg den Faden im Saum ihres Kleides und holte ihn nur hervor, wenn sie mit Jacob allein war, der selten sprach und der nichts über das Stück Farbe, das sie teilten, sagen würde.
Dann bekam eine ihrer Ziegen ein verspätetes Kitz, und Isabelle hatte noch ein letztes Geheimnis.
Die Ziege hatte zwei Zicklein zur Welt gebracht, leckte sie, säugte sie, und schlief, während sich die beiden an ihr geschwollenes Euter preßten. Als Isabelle vom Feld kam, um nach ihr zu sehen, bemerkte sie die rote Haut eines weiteren Kopfes, der sich herausschob. Sie zog den winzigen Körper heraus, sah, daß es lebte, und stellte es vor die Ziege, damit sie es säubern konnte. Als das neue Kitz gesäugt wurde, sah Isabelle zu und dachte nach. Ihre Geheimnisse machten sie kühn.
Die Wälder um Moutier herum waren so groß, daß sie
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