Das dunkle Erbe
beugte sich vor. »Wenn ich alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, dass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.«
DIE SPANNUNG im Präsidium war spürbar, wie bei einer Gruppe von Kletterern, die wiederholt ihre Ausrüstung überprüft hatte und darauf brannte, sich an den Aufstieg zu machen. Raupach wurde dringend erwartet. Es war Nachmittag, die Sonne warf so kräftige Strahlen in die Büros der Polizisten, als wolle sie ihr Versäumnis im Frühjahr nachholen.
Clausing hatte den abschließenden Obduktionsbericht in der Mordsache Eva von Barth lange hinauszögern müssen. Die Kollegen aus Meschede waren nicht mit dem Eifer zugange, den der Gerichtsmediziner gewohnt war. Er hatte eine simple Anfrage gestellt. Nach Blütenstaub.
An der Gummiplane, in die Eva von Barths Leiche eingewickelt gewesen war, befanden sich Spuren bestimmter Pollen. Sie stammten von einem Kirschbaum, wie sich im Labor hatte bestimmen lassen. Aber von welchem?
»In Frage kommen natürlich die Bäume, die an dem Feldweg in Föckinghausen stehen«, sagte Clausing bei seinem Vortrag vor versammelter Mannschaft. »Zum Abgleich benötigten wir Proben vom Blütenstaub dieser Bäume sowie eine Bestimmung der Kirschsorte.« Er steckte die Hände in die Taschen seines weißen Kittels, wie er es immer tat, wenn ihm etwas nicht behagte. »Anscheinend hielten Emrichs Leute unsere Anfrage für so abwegig, dass sie sich Zeit damit ließen.«
»Und das Ergebnis?«, fragte Raupach.
»Der Blütenstaub stammt von keinem der Bäume in Föckinghausen. Es handelt sich um Prunus serrulata, eine japanische Blütenkirsche mit stark hängenden Ästen.«
»Der Baum blüht dunkelrosa«, erklärte Photini. Sie war schon seit einer Stunde von ihrem Besuch bei Frau Rosinsky zurück und hatte Clausing vor seiner Ansprache gelöchert. »Das ist selten.«
Raupach sah den Baum im Geiste vor sich. »Worauf willst du hinaus?«
»So ein Kirschbaum steht im Wintergarten von Viktoria Brehm.«
Raupach nickte. »Die Indizien verdichten sich.«
Er erzählte von seinem Gespräch mit Bernhard Schwan und brachte Heinrich Brehm ins Spiel. Während er redete, bemerkte er, dass seinen Mitarbeitern noch mehr auf der Zunge lag. Er fasste sich kurz.
Golonka habe angerufen, sagte Heide daraufhin. Der Antiquitätenhändler hatte ihnen die Adressen seiner Kölner Kunden geschickt in der Hoffnung, dadurch die Suche der Polizei zu beschleunigen. Schließlich sei das Lockangebot mit der Zuckerdose reichlich unsicher.
Der Name Viktoria Brehm stach aus dieser Liste heraus.
Jetzt meldete sich Niesken zu Wort. Er hatte mit Sharon Springman die Protokolle der Zeugenbefragungen überprüft. Dabei war ihnen aufgefallen, dass sie so gut wie nichts über Heinrich Brehm wussten. Er war mit Gustav von Barth befreundet gewesen und hatte während des Krieges als Architekt gearbeitet, mehr hatte seine Tochter Viktoria nicht erzählt. Bislang war es nicht nötig gewesen, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Aber so, wie sich der Fall entwickelt hatte, lagen die Dinge wohl anders. Also hatten sie nachgeforscht.
»Heinrich Brehm, geboren 1917, war ein namhafter Architekt«, las Niesken von seinen Notizen ab. »Er baute Köln in den fünfziger Jahren wieder auf, zumindest Teile davon, vornehmlich Industrieanlagen, Verwaltungsgebäude und dergleichen. Darüber fanden wir jede Menge Material, die Baugeschichte der Nachkriegszeit ist inzwischen gut dokumentiert. Brehm erwarb sich einen Ruf, der bald über Deutschland hinausreichte. Ab 1960 war er häufig im Ausland unterwegs und übernahm Aufträge in ganz Europa. 1963 kehrte er von einer Reise nach Südfrankreich nicht zurück, aufgrund eines tödlichen Autounfalls. Er kam auf einer Küstenstrecke aus ungeklärten Gründen von der Straße ab. Das ging damals durch die Presse. Angeblich hatte er eine Affäre mit einem Partymädchen.« Niesken blickte hoch. »Das war’s.«
»Was soll denn ein Partymädchen sein?« Heide fand den Ausdruck lächerlich. »Eine Prostituierte?«
»Eine sehr junge Frau, von der man seinerzeit nichts Näheres wusste«, sagte Niesken. »Oder nichts wissen wollte. Die frühen Sechziger waren noch ziemlich verklemmt.«
»Was machte Heinrich Brehm während des Krieges?«, fragte Raupach.
»Unbekannt. Wir haben nur erfahren, dass er bis 1939 studierte, so steht es in einem Nachruf, den uns das Archiv eines Radiosenders gefaxt hat. Aus dieser Quelle stammen auch
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