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Das dunkle Erbe

Das dunkle Erbe

Titel: Das dunkle Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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Kästen gibt es jede Menge davon«, erwiderte die Kriminaltechnikerin. »Die offensichtlichen sollen von den besser versteckten ablenken.«
    »Die meisten Menschen haben mehr als nur ein Geheimnis.« Raupach ging in die Hocke und schaute Effie über die Schulter. Sie kauerte vor der rechten Seitenwand, klopfte das dunkle Holz mit einem kleinen Gummihammer ab und horchte auf den Klang der Geräusche.
    »Oder sie verteilen ihr Geheimnis auf mehrere Verstecke.« Photini begann, sich in diese Logik hineinzudenken. »Wie bei einem Schließfach. Das sollte man auch nicht bei der Bank haben, die einem das Konto führt und Einblick in alle Geldbewegungen hat.«
    »In einer der Schubladen im Aufsatz hab ich einen doppelten Boden gefunden.« Effie richtete sich auf und zeigte Raupach, wie sich das Brett, das zur Abdeckung diente, herausnehmen ließ. »Man muss es einfach kippen, nicht in die Vertikale wie bei dem anderen Geheimfach, sondern in die Horizontale.«
    »War die Einbrecherin hier auch zugange?«
    »Schwer zu sagen. Jedenfalls ist der Inhalt noch da.« Sie nahm ein Bündel Briefe heraus, zusammengehalten von einem violetten Seidenband. Dann setzte sie ihre Suche fort.
    Der Absender war deutlich lesbar. William Lobdell, eine Adresse in Boston, Massachusetts. Raupach ging damit zu dem langen Esstisch und verschaffte sich einen Überblick. Es waren acht Briefe, alle stammten von Mr. Lobdell. Die Poststempel auf den Umschlägen waren teilweise verwischt, doch jedes Schriftstück trug ein Datum. Die Briefe wurden in den Jahren 1968 bis 1970 geschrieben.
    Raupach und Photini entfalteten die einzelnen Blätter und legten sie auf dem Tisch aus. Die Anrede wechselte zwischen »My Love«, »My Darling« und dergleichen. Es waren Liebesbriefe, wie sich nach dem ersten Überfliegen des englischen Textes ergab. William Lobdell bzw. »Bill« schien zusammen mit Eva von Barth studiert zu haben. Eine leidenschaftliche Affäre, wie er mit ungelenken und nach heutigem Empfinden ein wenig angestaubten Worten versicherte. Immer wieder nahm er Bezug auf den Abschiedsball, die Nacht musste stürmisch gewesen sein, »like an earthquake«. Kurz darauf war Eva nach Europa zurückgekehrt.
    Die Briefe folgten einem vorhersehbaren Verlauf: Liebesschwüre wichen nach und nach Alltagsschilderungen von der Hochschule, die Texte wurden kürzer und sachlicher. Zwischendurch politisierte Lobdell, schrieb vom Wahnsinn des Vietnamkriegs, beklagte, dass die Studentenproteste in den USA abklangen, während sie in Europa erst so richtig anfingen. Eine Zeitlang kommentierte er jedes Ereignis, die hochgereckte Faust der schwarzen Sportler bei den Olympischen Spielen in Mexiko, später die Mondlandung.
    Doch Eva von Barths Ansichten schienen von Lobdells zunehmend abgewichen zu sein. Er wurde gemäßigter, nahm mehr seine berufliche Zukunft ins Visier und konnte wenig anfangen mit Begriffen wie »Stadtguerilla« oder der damals beliebten Parole »Macht kaputt, was euch kaputtmacht«. Die beiden entfernten sich voneinander.
    Lobdells letzter Brief enthielt vorwiegend Gemeinplätze und ein paar halbherzige Reminiszenzen an die gemeinsame Zeit in Massachusetts. Man spürte, dass die Luft raus war. Allerdings ging aus dem Schreiben auch die einzige brauchbare Information dieser Briefe hervor: Eva hatte wiederholt Streit mit ihrem Vater gehabt. Lobdells Reaktion zufolge hatte sie sich geweigert, in Gustav von Barths Fußstapfen zu treten. Sie war unsicher, ob sie den Arztberuf ausüben oder etwas ganz anderes anfangen sollte, vielleicht auch weiterstudieren, Politologie und Soziologie, damals eine gängige Fächerkombination für jeden, der etwas verändern wollte. Lobdell versuchte, mäßigend auf sie einzuwirken. Er trennte klar zwischen gesellschaftlichen Umbrüchen und Plänen für die persönliche Laufbahn.
    Mehr gaben die Briefe nicht her, Souvenirs einer weit zurückliegenden Phase im Leben der Ärztin, als ihr Leben noch im Fluss gewesen und durch die Strömungen einer wechselvollen Zeit mäandert war. Eva von Barth hatte diese Zeit weggesperrt, den Blicken entzogen, versenkt.
    »Es muss ihr mehr bedeutet haben als ihm«, überlegte Photini. »Sonst hätte sie die Briefe einfach in einem alten Schuhkarton aufbewahrt.«
    Raupach wusste, wie schnell starke Gefühle verblassen konnten. »Manche Menschen weigern sich, das Glück verlorenzugeben. Sie tun alles, um es zu konservieren.«
    »Das müsst ihr euch ansehen.« Effie winkte Raupach und Photini zu

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