Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dunkle Fenster (German Edition)

Das dunkle Fenster (German Edition)

Titel: Das dunkle Fenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
Vom Netzwerk:
würde alles, was sie sagte oder tat, von jetzt an mit Argwohn betrachten.
    Carmen lehnte ihren Kopf in die Sitzpolster und beobachtete unter halbgeschlossenen Lidern seine Hände, die entspannt auf dem Lenkrad ruhten. Sonnenlicht fiel schräg durch das Seitenfenster und ließ das Narbengeflecht auf seinem Handrücken noch deutlicher als sonst hervortreten. Er war einer der widersprüchlichsten Menschen, die sie je kennen gelernt hatte. In Momenten wie diesem schien es nicht vorstellbar, dass er überhaupt zu Brutalität oder gewaltsamen Handlungen fähig war. Seine Finger waren Künstlerfinger, lang und schmal, seine Handgelenke zwar kräftig, aber dennoch geschmeidig wie bei einem Pianisten. Aber sie hatte ihn auch anders erlebt, in Beirut und in den Tagen danach im Libanongebirge und da war er ein anderer Mann gewesen. Einer, der ohne zu zögern auf seinen Gegner feuerte und dem jedes Mittel recht war, um seinen Willen durchzusetzen. Sie dachte an die erste Nacht in den Kalksteinhöhlen, an die Todesangst und an die Schmerzen. Unwillkürlich tastete sie nach dem Schnitt an ihrem Kinn, der inzwischen fast verheilt war.
    Sie stoppten an einer Ampel. Quietschend bog eine Straßenbahn um die Kurve. Vor ihnen ragten die Hochhäuser der Sozialismus-Ära auf, Fassaden aus hellblau und gelb glasierten Kacheln, die das Bild rund um den Alexanderplatz noch immer prägten. Es war kurz vor elf Uhr. Nikolaj steuerte den Wagen in eine Seitenstraße und suchte nach einem Parkplatz. Sie fuhren an einem Spielplatz vorbei und an einer kleinen Parkanlage und fanden schließlich eine Lücke direkt neben einem U-Bahn-Eingang.
    Nikolaj stellte den Motor aus.
    „Wir sind da.“ Er löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Tür. „Komm, wir gehen ein bisschen spazieren.“
    Carmens Blick huschte kurz über das Mobiltelefon, das noch immer auf der Mittelkonsole lag.
    „Irgendwelche Neuigkeiten?“, fragte Rafiq, nachdem Katzenbaum das Handy vom Ohr genommen hatte.
    Der Katsa schüttelte den Kopf. Rafiq starrte wieder an die Wand, auf der inzwischen weiße Flecken zwischen den Fotos gähnten. Geblieben waren fünfzehn Adressen.
    „Wir suchen nach einer Nadel im Heuhaufen“, sagte Katzenbaum. Er legte das Telefon auf den Tisch und trat ans Fenster. „Grolanik tut, was er kann. Er hat alle seine Leute darauf angesetzt, aber mehr als auf einen Zufallstreffer hoffen, können die auch nicht.“
    „Also sitzen wir hier rum und warten auf ein Wunder“, konstatierte Tal mit einem bösen Lächeln. „Und versuchen uns mit Kunstdeutung.“
    Rafiq nahm einen der Kataloge in die Hand und wandte sich zur Tür. „Ich brauche frische Luft.“
    Rafiq ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und lief den Korridor hinunter, bis zu einer Glastür, die hinaus auf einen kleinen Innenhof führte. Er hatte Kopfschmerzen, die ganze Zeit schon. Langsam überquerte er den Rasen, bis er die Rückseite des Gebäudes erreichte, in dem die Büros der Botschaft untergebracht waren. Durch eine zweite Glastür gelangte er ins Innere und fand sich schließlich in einer Art Wartebereich mit Ledersesseln und einem kleinen Tischchen voller Informationsbroschüren wieder.
    Das Areal wirkte verlassen, aber das war auch nicht überraschend. Die Mitarbeiter waren im Wochenende. Ziellos blätterte Rafiq in seinem Katalog. Es war so unendlich frustrierend. Ihnen lief die Zeit davon und sie kamen einfach nicht weiter. Obwohl er sich innerlich dagegen wehrte, begann er inzwischen selbst daran zu zweifeln, dass diese Art von Detektivarbeit sie weiterbrachte. Vielleicht hatte Tal Recht. Vielleicht fanden sie am Ende heraus, welcher Platz auf diesen Bildern zu sehen war, und dann zeigte sich, dass Fedorow das Treffen auf einen ganz anderen Ort gelegt hatte.
    Oder, was wahrscheinlicher war, sie würden niemals erfahren, wo das Treffen stattgefunden hatte. Fedorow würde die Stadt wieder verlassen, und sie hätten seine Spur für alle Zeiten verloren. Und zur Hölle, warum meldete sich Carmen nicht? Sie hatte doch gesagt, sie würde erneut anrufen, sobald sie den genauen Ort und Zeitpunkt des Treffens wusste. Es gab eine simple Erklärung. Fedorow hatte sie bei dem Versuch erwischt und dann ...
    Ja was dann?
    Das führte zu nichts. Sie drehten sich im Kreis. Sein Zorn, den er so sorgfältig kultiviert hatte, wich innerer Erschöpfung. Er war müde, sein Geist durchsetzt von Zweifeln und Selbstvorwürfen. Er klappte den Katalog zu und legte ihn neben sich auf die Lehne.

Weitere Kostenlose Bücher