Das dunkle Fenster (German Edition)
Ziellos stöberte er in den Broschüren auf dem Glastischchen. Deutsch—Israelische Beziehungen. Berlin besuchen. Berliner Kunstschätze und Kostbarkeiten.
Er blätterte durch die Seiten. Plätze mit Statuen. Diese verdammte Stadt war voll von Plätzen mit Statuen. Rafiq las ein paar Zeilen quer. Der Autor hatte zu jeder Sehenswürdigkeit eine Anekdote verfasst, statt einfach nur nüchterne Fakten zu beschreiben. Er blieb an einer Geschichte zum Brandenburger Tor hängen, und dann zum Neuen Museum, das 1945 fast völlig zerstört wurde. Es ging um einen Raum, der nie für Ausstellungen benutzt worden war, weil es darin angeblich spukte, nachdem sich in den Zwanziger Jahren eine junge Frau aus dem Fenster zu Tode gestürzt hatte. Es gab aber noch eine andere Version der Geschichte, in der es hieß, sie sei von einem enttäuschten Verehrer hinunter gestoßen worden. Die Angestellten des Museums behaupteten danach, der Geist der unglücklichen Frau ginge nun in dem Raum um und hinterlasse jede Nacht blutige Handabdrücke auf den Fensterscheiben.
An dieser Stelle rastete etwas in Rafiqs Verstand ein. Er blätterte eine Seite zurück und betrachtete das Foto, das die Ruine des Neuen Museums in einer Luftaufnahme zeigte.
Die Straßen rund um die Museumsinsel quollen über von Menschen. Ein frischer Wind trieb Kumuluswolken vor sich her, die Sonne schien überraschend heiß für Anfang September. Das Wochenende hatte begonnen; Touristengruppen drängten sich in der Stadt. Es war ein Vorteil, dachte Nikolaj. Große Menschenmengen boten Sicherheit. Er warf einen Blick hinüber zu Carmen, die neben ihm ging. Sie wirkte angespannt. Nikolaj überlegte, was der Grund dafür war. Machte sie sich Sorgen wegen des bevorstehenden Treffens? Oder war es wegen der vergangenen Nacht? Wahrscheinlich beides. Er musste sie fragen. Wenn sie den heutigen Tag überlebten, musste er sie fragen, was passiert war.
Sie überquerten die Spree auf Höhe des Neuen Museums, das sich inzwischen in eine Großbaustelle verwandelt hatte. Nikolaj erfasste mit halbem Blick das Schild, das verkündete, dass die Renovierungsarbeiten bis zum Jahr 2015 abgeschlossen sein sollten. Ein Baugerüst verhüllte die Fassade. Sie ließen sich mit der Menge treiben, weiter die Straße hinunter bis zur Alten Nationalgalerie. Das Gebäude stammte, wie auch die übrigen Bauten der Museumsinsel, aus dem neunzehnten Jahrhundert und war in seiner Form einem römischen Tempel nachempfunden. Es stand etwa fünfzig Meter zurückgesetzt, dahinter ragten die Giebel des Pergamonmuseums auf. Der Platz vor dem Bau war als Garten angelegt und wurde nach Süden und Osten hin von den Kolonnaden begrenzt, einem gut hundert Meter langen, überdachten Wandelgang, der zugleich auch die Bodestraße abgrenzte.
„Hier“, sagte Nikolaj. Er blieb stehen.
Der Anblick wühlte Erinnerungen in ihm auf wie Laub in einem schlammigen Gewässer. Es gab wenige Plätze in Berlin, die ihm so vertraut waren wie dieser. Sonnenstrahlen wärmten die alten Steine, aber in der Luft hing bereits eine Ahnung von Frühherbst. In der Nacht hatte es geregnet. Die Kronen der Bäume begannen sich gelb zu färben, es roch nach feuchter Erde. Langsam wanderten sie zwischen den Säulen entlang. Unter ihren Schuhsohlen knirschte feiner Sand.
„Gut“, sagte Carmen. „Wo werde ich warten?“
Nikolaj wies mit dem Arm schräg nach vorn.
„Kurz vor der Brücke. Da gibt es Behindertenparkplätze. Auf einem stellst du den Wagen ab. Wenn ich es dir sage, fährst du vor. Du wirst mich dann sehen.“
Er sah, wie sie tief Luft holte.
„Mach dir nicht so viele Sorgen“, sagte er. „Das wird nicht schwierig. Wirklich nicht.“
Außer, ergänzte er in Gedanken, dass alles Improvisation sein würde. Keine Zeit für Vorbereitungen. Nikolaj stieß mit der Fußspitze gegen einen kleinen Stein.
„Können wir irgendwo noch was essen gehen?“, fragte Carmen.
Er warf einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. Zehn Minuten nach Zwölf. „Sicher“, meinte er schulterzuckend. „Warum nicht.“
Sie fanden ein kleines Cafe gegenüber dem Pergamonmuseum, wo sie im Freien sitzen und die Passanten beobachten konnten. Es roch nach Kaffee und gebratenen Würstchen. Eine Kellnerin brachte ihnen die Karte, einen in Folie eingeschweißten Papierbogen, auf dem jedes Gericht mit einem Bild illustriert war. Der Druck war von der Sonne ausgebleicht.
Carmen registrierte, wie Nikolaj das Publikum musterte, wie er mit einem Blick
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