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Das dunkle Fenster (German Edition)

Das dunkle Fenster (German Edition)

Titel: Das dunkle Fenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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saß mit dem Rücken zum Gang und hatte den Mann nicht kommen sehen. Sie antwortete zerstreut, fast unkonzentriert auf eine Frage. Er machte einen Scherz und sie lachte pflichtschuldig, sie hatten das in der Wohnung immer wieder durchgespielt. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie den Kellner, der dem Mann Wasser nachschenkte. Der Tisch stand nur wenige Meter entfernt. Die Getränke wurden gebracht, und dann, fünf Minuten später tauchte Alex auf. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, hatte sein helles Haar zur Seite gescheitelt und wirkte fast übertrieben teutonisch. Wäre Carmen nicht so angespannt gewesen, hätte sie lachen müssen. Er stellte seinen Aluminiumkoffer sorgfältig ab, dann reichte er Tal und Carmen die Hand. Sie tauschten Höflichkeiten aus und die Konversationssprache wechselte vom Arabischen zum Englischen.
    Carmen beobachtete aus dem Augenwinkel den Hinterkopf des Mannes, den sie für ihr Zielobjekt hielt. Er war der einzige Gast, der allein an seinem Tisch saß. Die Kellner räumten seine Vorspeisen ab und trugen ein Hauptgericht auf. Die Zeit wurde allmählich knapp, und er hatte sie noch nicht einmal bemerkt, weil die verdammte Säule im Weg war. Sie musste sich etwas einfallen lassen.
    „Sie entschuldigen mich einen Moment?“, sagte sie und stand von ihrem Stuhl auf. Dann machte sie einen Schritt zur Seite, so dass die Säule nicht länger die Blickachse zwischen ihr und dem Mann am Tisch blockierte. Sie drehte sich, auf der Suche nach einem Kellner. Der Barkeeper fing ihren Blick auf. „Entschuldigung, die Toiletten?“
    Der Mann lächelte freundlich und wies mit der Hand den Korridor hinunter.
    „Vielen Dank“, rief sie ihm zu.
    In diesem Moment blickte der Mann hinter der Säule auf und bemerkte sie. Carmen registrierte es nur aus dem Augenwinkel. Sie blieb noch einen Lidschlag stehen, scheinbar um sich zu orientieren. Gib ihm Zeit, ermahnte sie sich. Er braucht Zeit, um den Köder zu schlucken. Aber sie konnte nicht länger als ein paar Sekunden warten, sonst hätte sie Verdacht erregt. Langsam schritt sie den Korridor zwischen den Tischen ab, ein leichter Schwung in den Hüften, die Art von Gang, die geeignet ist, männliche Aufmerksamkeit zu erregen.
    In der Damentoilette blieb sie viel länger als notwendig. Sie zog ihre Augenbrauen nach und frischte den Lippenstift auf, dann betrachtete sie lange Zeit ihr Spiegelbild. Wie viel Ähnlichkeit hatte dieser Mensch noch mit der Carmen Arndt, die sie vor fünfzehn Jahren gewesen war? Nicht sehr viel, entschied sie, abgesehen von der sichtbaren Hülle. Katzenbaum hatte bestimmt, dass sie die pinkfarbene Strähne nicht einfärben solle, die sie damals getragen hatte. Eine Managerin, die die Interessen einer großen deutschen Baugesellschaft im Libanon repräsentierte, musste seriös erscheinen.
    Carmen betrachtete den Lippenstift in ihrer Hand. Dann, kurz entschlossen, verrieb sie etwas von der roten Farbe zwischen Daumen und Zeigefinger und zog die Haarsträhne mehrmals durch die Finger. Ein rötlicher Farbschimmer mischte sich ins Blond, immer noch dezent, aber durchaus wahrnehmbar. Sie lächelte ihr Spiegelbild an, verzog die Lippen noch ein wenig mehr und bedauerte ihren Entschluss, mit dem Rauchen aufzuhören. Das würde sie noch mal überdenken müssen. Zum Bild der coolen Revoluzzerin gehörte untrennbar die Zigarette im Mundwinkel, ebenso wie das Che Guevara-Porträt auf dem T-Shirt und ein zerdrücktes Batiktuch mit indischen Folkloremustern, das man sich wahlweise um die Stirn, den Hals oder in die Haare knoten konnte. Scheiße, dachte sie, wir werden nicht jünger.
    Auf dem Weg zurück zu ihrem Tisch hatte sie Glück. Der Mann war aufgestanden, um die Zeitung zurückzubringen. Auf halber Strecke trafen sich ihre Blicke und diesmal blieben sie aneinander hängen. Carmen musste ihre Überraschung nicht spielen. Die Erkenntnis traf siewie ein Schlag ins Gesicht. Mitten im Schritt hielt sie inne und starrte ihn an. Wie aus weiter Ferne registrierte sie, dass es in seinem Gesicht arbeitete, dass auch er mehr sehen musste als einfach eine attraktive Unbekannte in einem Beiruter Lokal. Es waren seine Augen. Diese Augen, die sie zurück katapultierten in eine Zeit aus Staub, grobschlächtigem Arabisch und barfüßigen Flüchtlingskindern, Waffenöl und Korditgestank, in eine Zeit voller Revolutionsromantik und Weltverbesserungsideen. Die Jahre hatten Spuren in sein Gesicht gegraben. Er trug seine Haare länger, Kinn und Wangen waren bedeckt

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