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Das dunkle Fenster (German Edition)

Das dunkle Fenster (German Edition)

Titel: Das dunkle Fenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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dort hingegangen, und manchmal kamen die Mädchen mit, um beim Spiel zuzusehen. Rafiq dachte an den Tag, an dem er den Russen zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte. Der stille Junge hatte sich ihnen einfach angeschlossen, und als sie anfingen, sich in zwei Mannschaften aufzuteilen, fragte er kaum hörbar, ob er mitspielen könne. Nikolaj war sein Name. Er erwies sich als ganz passabler Tormann, deshalb fragte Rafiq ihn beim nächsten Mal, ob er nicht wieder in seiner Gruppe spielen wolle. Nikolaj erzählte nicht viel von seiner Familie, aber Rafiq merkte schnell, dass etwas nicht stimmte. Der russische Junge hatte es nie eilig heimzukommen. Er wollte seinen neuen Freund auch nicht seinen Eltern vorstellen, obwohl Rafiq seinerseits ihn schon ein paar Mal mit ins Haus seines Vaters genommen hatte.
    Das Telefon klingelte, die Bilder zerfaserten. Rafiq sah auf. Katzenbaum griff nach dem Hörer. Es war ein kurzes Gespräch. Oder eigentlich kein Gespräch, vielmehr ein Zuhören. Er legte auf und richtete seinen Blick auf Rafiq.
    „Nicolá Martin hat das Hotel verlassen.“
    „Und nun?“
    „Sarni und Alex hängen an ihm dran.“
    „Was ist, wenn er sie bemerkt?“
    Katzenbaum schüttelte den Kopf. „Sie gehen kein Risiko ein.“
    „Wissen sie, wo er hin will?“, fragte Tal von der Küche her.
    Katzenbaum drehte sich zu ihm um. „Nicht genau“, gab er zu.
    In der Tat war es reine Spekulation. Sie nahmen an, dass er in Beirut absteigen würde; vielmehr, sie hofften es. Sofia hatte eine Liste aller gehobenen Hotels in Beirut angefertigt. Sie hatten eilig ein Apartment angemietet und mit Möbeln und persönlichen Gegenständen eingerichtet. Carmen hockte auf dem Balkon und lernte die Details ihrer Identität auswendig. Durch die Glasscheiben und die zurückgezogenen Vorhänge konnte Rafiq ihren Rücken sehen.
    „Was machen wir jetzt?“
    Katzenbaum presste die Finger gegen die Schläfen.
    „Wir warten.“
    Das Hotelzimmer in Beirut war größer als das in Tripoli und geschmackvoll eingerichtet. Auf dem Tisch stand eine Vase mit Freesien, deren Duft sich mit einem schwachen Geruch nach Möbelpolitur vermischte. Die Vorhänge waren zugezogen, und als Nikolaj sie zur Seite schob, entdeckte er dahinter hölzerne Schiebetüren, die das einfallende Licht filterten. Er warf einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es war fast sechs, in zwei Stunden ging die Sonne unter. Er hatte einen Zwischenhalt in Byblos gemacht und war ein paar Stunden zwischen den Ausgrabungen umhergelaufen. Wieder hatte er überprüft, ob jemand ihm folgte. Auf der Autobahn hatte er einen Wagen beobachtet, der eine Zeitlang hinter ihm gefahren war. Aber auch das hatte sich als falscher Verdacht herausgestellt. Irgendwann kurz vor Beirut war der Fahrer abgebogen.
    Angekleidet ließ Nikolaj sich auf das Bett fallen und schloss die Augen. Er war müde, die Erschöpfung durchdrang Körper und Geist gleichermaßen. Fast wünschte er sich inzwischen, etwas zu finden. Jemanden, der ihn beschattete. Eine Wanze im Telefon. Einfach einen Beweis, dass er sich das alles nicht einbildete. Und nun war er also in Beirut. Dem neuen Beirut, Phönix aus der Asche. Einer Großbaustelle, einem Ort der Geschäftigkeit. Die Lager waren nicht verschwunden – Shatila, Dbayeh, Burj-el Barkijneh. Es waren noch immer Brandherde, heute vielleicht mehr denn je. Hier zeigte sich die dunkle Seite der Stadt, aber es war kein Phänomen, das sich auf Beirut beschränkte. Nahezu jede große Stadt im Nahen Osten hatte ihren Elendsgürtel aus palästinensischen Flüchtlingslagern, die zugleich als Schlupfwinkel und Rekrutierungsfeld für die verschiedenen Guerilla-Organisationen dienten.
    Nikolaj öffnete die Augen. Vergessene Momente erwachten zum Leben, Erinnerungen gewannen ihre Farben zurück. Aber das war eben der Fluch dieser Stadt. Ihre Bilder, Klänge und Gerüche beschworen die Vergangenheit herauf. So viele Erinnerungen, die an einem Stein hafteten, einer Straße, einem Kastanienbaum.
    Er setzte sich auf. Vom Korridor hörte er Stimmen, eine Unterhaltung, das Lachen einer Frau. Schritte verklangen, irgendwo fiel eine Tür ins Schloss.
    „Monroe Hotel“, sagte Katzenbaum. „Er ist im Monroe abgestiegen.“
    Ihr Aufbruch erfolgte in aller Eile. Nur Sofia blieb in der Wohnung zurück. Alex buchte sich kurze Zeit nach Nicolá Martin ebenfalls im Monroe ein. Er gab sich als Bauingenieur aus, der bei der deutschen Firma HTB angestellt war. Laut seiner Legende reiste er

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