Das dunkle Fenster (German Edition)
zwängte sich durch die halb verschüttete Öffnung zurück ins Dunkel. Nikolaj hatte ihr die Taschenlampe dagelassen und sie war froh darüber. Die Höhlen waren ein verdammtes Labyrinth und wenn man nicht aufpasste, konnte man leicht stürzen oder sich den Schädel anschlagen.
20 Beirut | Libanon. Gegenwart.
Die Kopfschmerzen machten jede Bewegung zur Qual. Hinter den Vorhängen staute sich die Sonne, die Luft fühlte sich warm und stickig an. Nikolaj drehte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kissen. Er hatte einen Kater und er wusste, es würde nicht besser werden, wenn er einfach im Bett liegen blieb.
Obwohl der Gedanke verlockend war.
Mühsam stützte er sich hoch, seine Hand tastete nach der Uhr auf dem Nachttisch und stieß dabei ein Glas um. Einen Fluch murmelnd, setzte er sich vollständig auf. Sein Blick streifte die zu drei Vierteln leere Whisky-Flasche, die auf dem Teppich stand.
Mein Gott, wann hatte er sich zuletzt so gehen lassen? Die vergangenen Jahre hatte er kaum noch Alkohol angerührt. Dennoch hatte er sich gestern Abend in seinem Zimmer verbarrikadiert, um sich systematisch zu betrinken. Hemd und Hose waren zerknittert. Er hatte sie nicht ausgezogen, bevor er auf dem Bett eingeschlafen war. Barfuss tappte er ins Bad. Er drehte den Wasserhahn auf und trank Leitungswasser aus der hohlen Hand. Mit den feuchten Fingern fuhr er sich über das Gesicht und durchs Haar. Sein Spiegelbild zeigte Augenringe.
Geister und alte Geschichten.
Daran konnte auch der Whisky nichts ändern. Die Kristallflasche barg nicht mehr als ein leeres Versprechen. Was geschehen war, war eben geschehen. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Vorsichtig bückte er sich und band die Schuhe zu. Dann ging er hinunter, um zu frühstücken.
Das Hotelrestaurant wirkte hell und großzügig und sehr modern. Nikolaj überblickte den Raum, als er eintrat. Viele der Gäste waren Geschäftsleute. Man sah es an den Anzügen und den gebügelten Hemden und den Mobiltelefonen. Direkt neben dem Eingang frühstückte ein älteres Paar. Engländer.
Und dann fiel ihm die Frau ins Auge. Sie saß mit dem Rücken zum Eingang, gemeinsam mit einem blassen, hellhaarigen Mann, den Nikolaj sofort erkannte. Er hatte ihn gestern Abend in der Lobby gesehen und dann später im Restaurant, zusammen mit der Frau, die ihn so fatal an Carmen Arndt erinnerte. Doch diesmal war das Licht nicht gedämpft, sondern hell und ungefiltert. Als sie den Kopf drehte, erkannte er deutlich den rötlichen Schimmer in einer Haarsträne, die ihr seitlich über die Wange fiel. Wie ausgewaschene Farbe, kam es ihm in den Sinn, von der dennoch Spuren zurückgeblieben waren. Mit einem Ruck wandte er sich ab und steuerte einen Tisch neben dem Buffet an.
Die Kopfschmerzen brachten ihn beinahe um. Er winkte einem Kellner und bat ihn um Tee und Wasser und eine Packung Aspirin. Seine Welt schwankte, er hatte das Gefühl, dass der Boden sich unter ihm wegdrehte. Erstaunlich, wie Prioritäten sich verschieben konnten. Binnen zwölf Stunden war sein eigentliches Problem vollständig in den Hintergrund getreten. Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass die Frau von ihrem Tisch aufstand. Ihr Begleiter sagte etwas zu ihr, sie lachte. Es war ein vertrauter Klang, und diese Erkenntnis machte ihn fast wahnsinnig. Sie steuerte in seine Richtung, sie trug einen Teller in der Hand und wollte zum Buffet.
Und dann sah sie ihn. Sie stockte mitten im Schritt. Ihm fiel auf, wie sorgfältig sie gekleidet war, der dunkle Rock und das leichte Jackett und darunter eine weiße Seidenbluse. In ihrem Gesicht arbeitete es. Es war nur ein kurzes Zögern, das in Nikolajs verzerrter Wahrnehmung jedoch Ewigkeiten dauerte. Er beobachtete, wie sie an der Obsttheke stehen blieb. Abrupt drehte sie sich um und kam auf ihn zu. Ihr Gesicht war Unsicherheit, ein verlegenes Lächeln.
„Verzeihung, kennen wir uns vielleicht?“, fragte sie auf Englisch.
Nikolajs Verstand kehrte zurück und trieb alles Irrationale zurück in die Schatten seines Bewusstseins. Er konnte spüren, wie Rädchen ineinander griffen, wie mit einem Schlag seine Paranoia zurückkehrte. Schärfer vielleicht als beabsichtigt formulierte er seine Antwort. „Excusez-moi, Mademoiselle? Je ne comprends pas un not.“ Dazu lächelte er, aber es war ein kleines, arrogantes Lächeln, das signalisierte: Bitte belästigen Sie mich nicht.
Carmens Mimik wurde schmal, während sie fieberhaft
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