Das dunkle Fenster (German Edition)
von einem dunklen Bartschatten. Nur seine Augen hatten sich nicht verändert. Dann, eine Sekunde später schlug sie wieder in der Gegenwart auf. Sie stand da und starrte ihre Zielperson an.
Er durfte keinen Verdacht schöpfen, hämmerte es durch ihren Kopf. Er sollte sie bemerken, aber er durfte nicht den Eindruck gewinnen, dass diese Begegnung inszeniert war.
Carmen straffte ihre Schultern und sah abrupt zur Seite, so als sei ihr der Moment plötzlich peinlich. Mit ein paar schnellen Schritten war sie zurück an ihrem Tisch. Tal und Alex hatten sich in eine Diskussion über deutsche Autos vertieft. Carmen griff nach ihrem Glas und trank hastig. Sie war aufgewühlt, sie musste nichts vortäuschen.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Tal höflich.
„Ja, ausgezeichnet“, erwiderte sie abgehackt. „Mir geht es gut.“
Unter gesenkten Wimpern hervor beobachtete sie, wie ihre Zielperson zum Tisch zurückkehrte, nicht ohne ihr noch einen Blick zuzuwerfen.
Gut.
Dann kamen die Kellner und servierten Mezzé.
Nach dem Essen kehrte Nikolaj nicht sofort zurück zum Hotel, obwohl das ursprünglich seine Absicht gewesen war. Ziellos folgte er der gewundenen Straße, bis er auf die Corniche traf, die palmengesäumte Uferpromenade. Eine Zeitlang blieb er an der Kaimauer stehen und betrachtete die Wellen, die sich schwarz an den Steinen brachen.
Er hatte einen Geist gesehen.
Seine Nerven spielten ihm einen Streich, das war die einzige Erklärung. Er war überreizt, hatte überreagiert. Die Frau im Restaurant hatte ihn angesehen, und zwar zu lange, um es auf ein zufälliges Zusammentreffen von Blicken zu reduzieren. Aber die Ähnlichkeit – mein Gott, einen Moment war er fest davon überzeugt gewesen, Carmen Arndt vor sich zu haben.
Nein. Er hatte einen Flirtversuch missdeutet, mehr war es nicht. Schon wieder einer dieser seltsamen Zufälle, bohrte die Stimme in seinem Hirn. So etwas wie Zufall gibt es nicht. Und was, fragte er sich wütend, war dann in Berlin schief gelaufen? War das nicht eine Verkettung unglückseliger Zufälle gewesen? Carmen Arndt war tot. Es gab keine andere Möglichkeit. Was machte dann diese Frau hier in Beirut, die ihr glich wie eine Zwillingsschwester? Nikolaj starrte auf das Wasser hinab. Es war diese verdammte Stadt, das war alles. Der Ort seiner begrabenen Kindheit. Sie mochten die zerstörten Häuser zusammenschieben und den Schutt vor der Küste im Meer versenken, es änderte dennoch nichts daran, dass Beirut vor allem eine Heimat der Geister war.
Carmen fuhr mit dem Taxi zu ihrer Unterkunft in Manara. Sie hatten eine Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung in einem neu gebauten Apartmenthaus angemietet. Das Gebäude war groß und anonym. Hier war es normal, seine Nachbarn nicht zu kennen.
Carmen warf die schwere Teakholz-Tür hinter sich zu und schleuderte die Schuhe von den Füßen. Barfuss tappte sie in die Küche und setzte Teewasser auf. Dann ging sie hinüber ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Sie ließ sich auf das elegante Sofa fallen, zog die Beine an ihren Körper und lehnte ihr Kinn auf die Knie. Erschöpfung sickerte in ihre Muskeln, aber das hatte wenig mit körperlicher Anstrengung zu tun. Zwiespältige Empfindungen versetzten sie in Unruhe.
Sie selbst hatte sich nie in diesen Grad an Bruderhass hineingesteigert, den Rafiq kultivierte. Auch sie war von Nikolajs Verrat verletzt worden, aber das Wissen hatte nicht diese extremen Emotionen in ihr auflodern lassen. Nur Zuneigung in Gleichgültigkeit verwandelt. Und wussten sie denn, unter welchen Umständen er sie verkauft hatte? Was hatten sie selbst getan? Genau genommen hatten sie ein ganzes Volk verraten, eine ganze Idee. Einst hatten sie sich den Rebellen angeschlossen, um für die Freiheit Palästinas zu kämpfen und jetzt arbeiteten sie für die Israelis. Das war nichts, über das sie länger nachsinnen wollte. Lange starrte sie die Wand an, während sie versuchte, die Erinnerungen aus ihrem Kopf zu vertreiben.
19
Südlibanesische Sicherheitszone | Februar 1992
Es stank nach Ziegen und menschlichen Exkrementen. Die Höhlen waren verlassen, schienen aber von Zeit zu Zeit als Viehunterkünfte genutzt zu werden.
Carmen hockte auf den Knien, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Sie versuchte das Zittern zu unterdrücken. Ihre Zähne schlugen aufeinander, sie fror entsetzlich. Das war nur zum Teil auf die nächtliche Kälte zurückzuführen. Ihr Adrenalinpegel sackte ab und verursachte dabei Nachwirkungen, die
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