Das dunkle Fenster (German Edition)
Mitleid seine Handlungen bestimmte. Hier ging es um ihn, um seine Sicherheit, um sein Leben. Für Gefühlsduselei blieb da kein Platz.
„Warte“, sagte er, „ich mache es dir etwas bequemer.“
Seine Stimme klang brüchig, dachte Carmen. Ihr entging nicht, dass er stetig an Kraft verlor. Gebannt verfolgte sie, wie er sich abwandte, um in dem Haufen aus Kisten und Decken etwas zu suchen. Als er zurückkam, sah sie, dass er eine Rolle Textilklebeband in der Hand hielt, das Zeug, mit dem man auch Kabel reparieren konnte. Gott, wie sie ihn hasste in diesem Moment. Seine Kälte, seine Überlegenheit, die ruhige Methodik, mit der er sie nach Belieben manipulierte. Sie hasste ihn, weil er eine Art von Furcht in ihr wachrief, die sie beinahe vergessen hatte.
Sie leistete keinen Widerstand, als er ihre Hand- und Fußgelenke mit dem Gewebeband zusammenschnürte. Sie fand einfach keine Kraft dafür. Ihre Muskeln und ihr Wille waren gleichermaßen erlahmt. Wenigstens verzichtete er dieses Mal auf den Knebel. Sie musterte sein blutgetränktes Hemd und sah, dass ihm jede Bewegung Schmerzen bereitete. Wieder fesselte er ihre Hände an die rostige Eisenkrampe. Dafür hasste sie ihn noch mehr. Er legte eine Wolldecke um ihre Schultern.
„Versuch zu schlafen“, sagte er.
Die Decke war muffig und stank nach Benzin.
„Leck mich!“
Schwach brach sich ihre Stimme an den Kalksteinwänden.
Der Stoff war steif und dunkel von getrocknetem Blut. Er war an der Wunde festgeklebt. Eine Welle von Übelkeit überspülte Nikolaj, als er das Hemd mit Gewalt ablöste. Er hielt für einen Moment inne, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Vorsichtig tastete er nach seiner Schulter. Sie blutete wieder, aber nicht so stark, wie er befürchtet hatte. Das Projektil hatte eine tiefe Schramme gerissen, die sich vom Brustmuskelansatz bis hoch zum Schulterknochen zog. Erleichterung stieg in ihm hoch, während er den Wundkanal abtastete. Nur ein Streifschuss.
Er schraubte die Wasserflasche auf und begann das Blut abzuwaschen. Danach riss er Streifen von einer Decke ab, fertigte sich daraus eine Art Verband und fixierte ihn mit Klebeband. Er wusste, dass er die Wunde eigentlich hätte desinfizieren müssen. Wahrscheinlich würde sie sich entzünden. Doch damit konnte er sich später beschäftigen.
Mühsam richtete er sich auf. Noch einmal kontrollierte er die Fesseln, die er Carmen angelegt hatte. Sie betrachtete ihn aus halbgeschlossenen Lidern, regungslos. Ihre Lippen wirkten schmal und blutleer, aber vielleicht lag es auch am Licht. Die Zeiger auf seiner Armbanduhr zeigten zehn Minuten nach Zwei. Er schaltete die Taschenlampe aus und wickelte sich in die zweite Decke, die er aus dem Wagen mitgebracht hatte. Binnen Sekunden überwältigte ihn der Schlaf.
22 Beirut | Libanon
„Was sagt er?“, fragte Sofia.
„Shalev?“
Sie nickte.
Rafiq beobachtete Katzenbaum, der das Handy zuklappte und bedächtig auf der Tischplatte ablegte. Lev riss sich zusammen, er demonstrierte Nerven. Das war seine Aufgabe, seine Pflicht. Die Ruhe bewahren, nachdem der schlimmste denkbare Fall eingetreten war.
Rafiq selbst brachte nicht soviel Selbstbeherrschung auf. Sein Groll hinderte ihn daran, klar zu denken. In den letzten Stunden hatte er verschiedenste Pläne durchgespielt, alle gleichermaßen absurd und undurchführbar. Sie hielten sich in einem feindlichen Land auf und hatten keine Ahnung, in welche Richtung Fedorow geflohen war. Sie wussten nicht, ob Carmen überhaupt noch lebte. Katzenbaum allerdings war überzeugt, dass Fedorow sie nicht töten würde. Er glaubte, dass der Russe sie als Geisel mitgenommen hatte und als potentielle Informationsquelle. Letzteres bereitete dem Katsa die größeren Sorgen, davon war Rafiq überzeugt. Der Gedanke verärgerte ihn noch mehr.
„Shalev sagt, dass der Direktor uns nicht helfen wird“, sagte Katzenbaum.
Das also war die Zusammenfassung eines zehnminütigen Telefonats, das Lev nach Tel Aviv geführt hatte, dachte Rafiq.
„Was heißt das?“
„Das heißt, dass Shimon Cohen angeordnet hat, den Libanon sofort zu verlassen. Er will die Operation abbrechen. Das Risiko ist ihm zu hoch.“
„Und Carmen? Die schreibt ihr auf die Verlustliste, oder wie?“ Er merkte, wie seine Tonlage sich nach oben schraubte, wie seine Stimme zu klirren begann. „Kollateralschaden, oder wie nennt ihr so was? Ich dachte, es gibt eine Regel, niemals die eigenen Leute
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