Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dunkle Fenster (German Edition)

Das dunkle Fenster (German Edition)

Titel: Das dunkle Fenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
Vom Netzwerk:
„Einverstanden.“
    „Wie funktioniert das morgen? Wo treffen wir uns?“
    „Kennen Sie sich in der Gegend aus?“
    „Nein.“
    „Manuel!“, rief der Kapitän über den Tresen. „Manuel, gib mir mal Papier und Bleistift!“
    Vorsichtig drehte Carmen ihr Handgelenk in der Fessel. Sie hatte fast einen Zentimeter gewonnen. Wieder nahm sie die monotone Bewegung auf. Vor, zurück. Halbe Drehung. Vor, zurück. Das Klebeband weitete sich allmählich.
    Vor. Zurück.
    Nur sie und die Dunkelheit. Und die leise schabenden Geräusche, mit denen das Klebeband über den eisernen Bettpfosten schrammte. Der monotone Rhythmus war wie ein Wiegen, das matt und schwer die Sinne einlullte.
    Aber Carmen war hellwach. Ihre Nerven vibrierten, sie presste die Lippen zusammen vor Konzentration. Ihre Handgelenke waren wund gescheuert und brannten.
    Nikolaj hatte kurz nach ihrer Ankunft in Sur das Hotelzimmer verlassen und war noch nicht wieder zurückgekehrt, obwohl inzwischen die Nacht hereingebrochen war. Carmen glaubte, dass mindestens vier Stunden verstrichen sein mussten.
    Sie vermutete, dass er nach einer Möglichkeit suchte, das Land zu verlassen. Auf ihre Fragen hatte er nur ausweichend geantwortet. Sie nahm außerdem an, dass er versuchen würde, sie mitzunehmen. Seine Beweggründe waren ihr allerdings nach wie vor unklar. Sie hatte ihm alles gesagt, was er wissen wollte. Nicht umsonst hatte sie versucht, die Preisgabe ihres Auftraggebers herauszuzögern – allerdings nicht aus Loyalität zum Mossad. Carmen hatte befürchtet, dass sie danach nutzlos für Nikolaj sein würde. Seit mehr als vierundzwanzig Stunden gab es keinen Grund mehr für ihn, sie am Leben zu lassen. Dieser Gedanke hatte sie in Hawqa noch in Panik versetzt.
    Dass er sie dennoch nicht erschossen hatte, ließ sich mit rationalen Argumenten nicht erklären. Nikolaj hatte gewiss keine Hemmungen, jemanden zu töten. Das hatte er in ihrem Apartment unter Beweis gestellt und später auf der Straße nach Hermel, als er auf den Fahrer des Militärjeeps feuerte. Was war also der Grund? Sentimentalität? Ein Tribut an alte Zeiten? Oder erwartete er, dass er sie als Geisel noch brauchen würde?
    Der Morgen im Hotel in Hermel hatte sich fast unnatürlich normal angefühlt. Das irritierte sie noch stärker als die Gewaltausbrüche, die unweigerlich folgten, wenn sie Widerstand versuchte. Sein Handeln schien einem Plan zu folgen, den sie aber nicht kannte. Die Frage war nur, wie lange sie noch als Bestandteil dieses Plans funktionierte. Und was danach passierte.
    Vor. Zurück.
    Das Klebeband gab nach. Carmen ruckte heftig daran. Die Fasern überdehnten und rissen mit einem leisen Knirschen. Ihre rechte Hand war frei. Rasch fuhr sie mit der Zunge über das Handgelenk, um den Grad der Verletzung abzuschätzen. Sie schmeckte Blut, aber nicht sehr viel.
    Gut.
    Vorsichtig streckte sie ihren Arm zum Nachttisch aus und stöhnte auf vor Enttäuschung, weil sie nicht weit genug reichte. Sie gab den Versuch auf und nahm die freie Hand zur Unterstützung, um auch den anderen Arm zu befreien.
    Dann die Füße. Mit einem Fingernagel löste sie das Ende des Klebestreifens und zog die Lagen ab. Hastig sprang sie vom Bett auf und schaltete das Licht ein. Sie zerrte sich den Hedschab vom Leib, den Nikolaj ihr in Hermel aufgezwungen hatte, ein schwarzes, sackartiges Gewand, das sich unförmig um ihren Körper bauschte. Darunter trug sie immer noch seine Jeans und das T-Shirt. Ein unpassender Gedanke trieb in ihr Bewusstsein. Eine völlig andere Situation, in der sie die Kleider eines Mannes getragen hatte. Zu großes T-Shirt, zu weite Jeans. Barfuss in die Küche zu tappen, Kaffee aufzusetzen, während die Sonne helle und dunkle Streifen auf den Küchenboden malte. Während im Shirt noch der Geruch des Mannes hing, mit dem sie geschlafen hatte. Rafiqs Geruch.
    Sie schloss die Augen, brauchte jetzt einen klaren Kopf. Beinahe zaghaft drückte sie die Türklinke herunter. Es war abgeschlossen, aber das hatte sie erwartet. Sie riss einen Fensterflügel auf und beugte sich weit hinaus. Eine weiß gekalkte Wand, drei Stockwerke tief, keinerlei Vertiefungen oder Vorsprünge. Springen war unmöglich. Das Fenster lag viel zu hoch.
34 Tripoli | Libanon
     
    Zu Fuß überquerten sie die breite Hafenpromenade und blieben an der Kaimauer stehen. Die Nachtluft war mild, ein leichter Wind strich durch die Baumkronen. Doch keiner der beiden Männer hatte Sinn für die Schönheit des Abends.
    „Das ist

Weitere Kostenlose Bücher