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Das dunkle Fenster (German Edition)

Das dunkle Fenster (German Edition)

Titel: Das dunkle Fenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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was dann? So vieles konnte noch schief gehen. Sie hatte kein Auto und keinen Dollar in der Tasche. Was, wenn sie Nikolaj auf dem Weg nach draußen begegnete?
    Die Alternative bestand darin, sich aufs Bett zu setzen und kalkuliert auf seine Rückkehr zu warten. Er würde ahnungslos sein, wenn er die Tür öffnete. Sie würde auf die Brust zielen – das war ein großes Ziel. Kaum zu verfehlen.
    Wenn Nikolaj zurück war, hatte sie alles, was sie brauchte. Ein Auto, eine Waffe, genügend Geld. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Die Straße, die unten vorbeiführte, lag verlassen da. Mit einer raschen Handbewegung schaltete Carmen das Licht aus.
    Nikolaj betrat das Gebäude durch den Hofeingang. Ein untersetzter Mann hockte auf dem Stuhl hinter der Rezeption und verfolgte ein Fußballspiel im Fernsehen. Er blickte kaum auf, als Nikolaj ihm einen kurzen Gruß zuwarf. Nikolaj passierte den defekten Fahrstuhl und stieg die Treppen hinauf bis in den dritten Stock. Irgendwo lief eine Toilettenspülung. Ein abgetretener roter Teppich folgte dem Verlauf des Korridors. Neonröhren spendeten in unregelmäßigen Abständen gelbliches Licht.
    Das Zimmer lag ungefähr auf halber Höhe des Flurs. Nikolaj blieb vor der Tür stehen und wollte den Schlüssel ins Schloss stecken, als ihm der Putz auffiel, der in kleinen Bröckchen unter der Tür lag. Er bückte sich und fuhr mit dem Finger durch den weißen Staub. Das war noch nicht da gewesen, als er den Raum verlassen hatte. Bei näherer Betrachtung fand er Bruchstellen auf Höhe des Schlosses, an denen der Mörtel abgeplatzt war. Er trat einen Schritt zurück und musterte die Tür. Da hatte sich jemand am Schloss zu schaffen gemacht.
    Nikolaj spannte sich an. Seine Nackenhaut begann zu prickeln. Er griff nach der Pistole und entsicherte sie. Kurz versuchte er abzuschätzen, ob das Türblatt eine Kugel abhalten konnte. Sein Blick wanderte hoch zu den verkratzten Neonleuchten. Rasch machte er zwei Schritte zurück und legte den Schalter um. Flackernd erlosch das Licht.
    Er drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und schob den Schlüssel mit ausgestrecktem Arm ins Schloss. Das metallische Geräusch war unverkennbar und musste von innen gehört werden. Er zog den Arm zurück und wartete ein paar Sekunden, ohne dass etwas passierte. Erneut streckte er die Hand aus, drehte den Schlüssel herum und drückte die Klinke herunter.
    Er zögerte.
    Stille.
    Dann, mit sachtem Schwung, zog er die Tür nach außen, so dass sie aufschwang.
    Ein gedämpftes Plopp, Holzsplitter und Putz flogen in alle Richtungen.
    Nikolaj stieß gepresst den Atem aus. Seine Gedanken drehten sich. Wie hatten sie seine Spur gefunden? Was bedeutete das für seine Pläne, die Überfahrt betreffend? Waren die ebenfalls aufgeflogen? Aus dem Zimmer drang kein einziger Laut. Er schwenkte den Arm mit der Waffe herum und löste sich von der Wand.
    Die Schüsse, aus so kurzer Entfernung abgegeben, hallten betäubend laut in ihren Ohren. Ein Querschläger prallte irgendwo ab, sie hörte das Jaulen. Halb taub und vor Entsetzen zu kaum einem Gedanken fähig ließ Carmen sich auf den Boden fallen und kroch rückwärts unter dem Bett hindurch bis zur anderen Seite. Dass sie nicht sehen konnte, wo die Kugeln einschlugen, machte es noch schlimmer. Auf Knien und Ellenbogen schob sie sich nach hinten, bis sie gegen die Wand stieß. Eine kleine Lawine aus Putzbrocken traf ihr Gesicht, als ein Projektil dicht neben ihrem Kopf in die Wand schlug.
    Abrupt riss der Geschosshagel ab, doch der Lärm in ihren Ohren dröhnte weiter. Erst verzögert registrierte sie, dass sie ihre eigenen Schreie hörte, dass sie unentwegt schrie, dass ihre Kehle heiser war vom Schreien. Sie verstummte. Reglos blieb sie liegen. Licht flammte plötzlich auf. Sie schloss die Augen, ertrug das jetzt nicht. Eine Hand fasste sie an der Schulter und drehte sie herum, so dass ihre Stirn nicht länger gegen den Boden gepresst war.
    „Bist du verletzt?“ Das war Nikolaj. Seine Stimme klang rau. „Bist du ...“, er brach ab, seine Hände tasteten über ihren Körper, sie spürte seine Finger an ihren Handgelenken. „Oh Gott, Carmen, was soll ich mit dir machen?“
    Geh weg, dachte sie. Ein Schluchzen stieg tief aus ihrer Kehle auf und schüttelte ihren Körper. Geh weg. Sie ertrug es nicht, dass er sie so sah. Ihr Stolz ertrug es nicht. Ihre Selbstachtung. Ihr Inneres war schwarz. Leer.
    Der Steg lag halb hinter einem Felsvorsprung und war von der Straße aus

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