Das dunkle Feuer der Nacht: Roman (German Edition)
gestorben war.
Ich brauche dich. Komm heute Nacht zu mir! Ich bin so müde. Ich konnte die Frau nicht retten, bevor sie erschienen, und da hat sie sich selbst das Leben genommen und sich in den Fluss gestürzt. Ich hatte sie vier Wochen verfolgt und alles versucht, um sie zurückzuholen, aber ich kam zu spät. Manchmal scheint es mir, als käme ich immer nur zu spät.
Solange stellte ihn sich vor, baute ihn Zentimeter für Zentimeter vor ihrem geistigen Auge auf. Die kräftigen Schenkel, die schmalen Hüften und die brennenden Augen, die heute Nacht sehr grün waren. In letzter Zeit, wenn sie ihn zu sich rief, trug er immer neue Narben. Das war etwas seltsam in einem Traum, den sie selbst heraufbeschwor, weil sie sich nicht erinnern konnte, dem Mann diese Narben zugeschrieben zu haben. Ein paar Brandmale an der linken Seite seines Gesichts und Nackens, die sich an seiner Schulter hinunterzogen und sich an seinem Arm verschlimmerten. Vielleicht hatte ihr Geliebter Wunden, weil auch sie welche davongetragen hatte?
Sie entschied sich für eine Kalksteinhöhle tief unter der Erde, um ihn zu empfangen – ein sicherer Ort, an dem die Jaguarmänner sie nicht mal finden könnten, wenn sie auf der Suche nach ihr wären. Solange rief die gemütliche Höhle, in die sie sich so oft zurückzog, um sich zu erholen, in ihrer Erinnerung auf und fügte dem Bild noch ein wärmendes Feuer und einige bequeme Sessel hinzu. In ihrem Traum konnte sie es sich leisten, feminin zu sein, auch wenn sie nicht schön war wie Juliette oder Jasmine. Ihr Körper wies zu viele Narben auf, und sie hatte längst vergessen, wie man lächelte – außer, wenn er bei ihr war. Doch obwohl sie sich wirklich gern als schön in ihrer Traumwelt sähe, war das leider unmöglich. Sie konnte sich in einen Jaguar verwandeln, aber sie konnte sich keine glatte, makellose Haut oder einen schlanken, biegsamen Körper andichten.
Das Gute an dem Mann aus ihren Träumen war, dass es ihm nichts ausmachte, dass sie weder perfekt oder feminin genug war. Es störte ihn auch nicht, dass sie manchmal weinte oder ihm zeigte, was sie vor dem Rest der Welt verbarg. Und er würde sie nie verraten, sie niemals enttäuschen; sie konnte ihm ihre größten Ängste und schlimmsten Geheimnisse anvertrauen, und er würde sie trotzdem respektieren. Er wusste Dinge über sie, die niemand sonst wusste.
Sie stellte sich die Höhle mit den Maya-Malereien an den Wänden vor, diese Geschichten längst vergangener Leben und einer Welt in ferner Vergangenheit, wo Mond und Sterne nahe gewesen waren und Jaguare in aufrechter Haltung die Nacht durchstreift hatten – Männer, die respektiert und verehrt statt gemieden und verachtet wurden. Eine viel glücklichere Zeit. Solange konnte sich nicht vorstellen, ein Kleid zu tragen, etwas Weiches, Feminines, wie Juliette es häufig trug, aber sie achtete darauf, sich stets so hübsch wie möglich zu machen. Wie mit ihrem Lieblingstop, einem eng anliegenden Shirt, in dem sie sich manchmal ein bisschen albern vorkam. Sie trug es nie in der Öffentlichkeit, nicht einmal in Gegenwart ihrer Cousinen, aber wenn sie weiblich und vielleicht auch ein bisschen hübsch aussehen wollte, zog sie es an – und wenn auch nur für kurze Zeit.
Natürlich trug sie Jeans und nie einen Rock, weil er dann die Narben an ihrem Bein sehen würde. Sie wusste zwar, dass sie ihn nicht stören würden, doch sie wollte so gut wie möglich für ihn aussehen. Solange hatte schon überlegt, Ohrringe auszuprobieren, und einmal hatte MaryAnn, eine Frau, die sie kannte und bewunderte, ihr die Fingernägel lackiert. Dadurch hatte sie sich merkwürdigerweise weiblicher gefühlt, aber es hätte sie in Verlegenheit gebracht, auch dieses kleine Detail in ihren Träumen heraufzubeschwören.
Und nun saß sie am Feuer, barfuß und tatsächlich recht hübsch, und wartete mit klopfendem Herzen auf sein Erscheinen. Es war eigentlich dumm, so viel in einen Mann zu investieren, der nicht real war, doch sie hatte eben keinen anderen. Sie fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar. Es hatte mehr die Farbe der dunklen Flecken auf dem Fell des Jaguars als die goldbraune Schattierung drumherum. Es war fast zobelbraun und unbezähmbar.
Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Es war unmöglich, weiterzukämpfen und nicht dabei umzukommen. Ein paar Zentimeter mehr, und ihre neueste Verletzung hätte sie umgebracht. Und im Jaguarcamp zu leben war noch schlimmer, als zu sterben. Falls es ihnen gelingen
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