Das dunkle Herz Kashas
jungen Grugandar ausgelöscht hätte, habe ich immer mit dem Dunklen, dem Bösen, dem Unberechenbaren in mir gekämpft. Ich wollte das Erbe meines Vaters aus meinem Wesen verbannen und mich ganz der weißen Magie widmen... Und doch gibt es Tage, an denen ich vor meinem eigenen Bild im Wasser des Sees zurückschrecke und mich frage, wozu ich fähig wäre...“
Er schwieg erneut und ich versuchte Worte dafür zu finden, wie unendlich leid es mir tat, dass er hatte miterleben müssen, wie sein eigener Bruder seine Mutter tötete. Was konnte ich sagen, das dem gerecht wurde, was er mir soeben anvertraut hatte? Wie musste es sein, mit solchen Erinnerungen und Selbstzweifeln zu leben?
Als Xerus erneut das Wort ergriff, klang seine Stimme brüchig, fast tonlos. „Ich kann es gut verstehen, wenn du deinen Weg lieber ohne mich fortsetzen und das Kernland so schnell wie möglich verlassen willst...“
Überrascht sah ich in sein Gesicht das einer Maske glich, die keinerlei Gefühlsregung verriet. „Ich möchte weder das Kernland verlassen noch dich aus deinem Versprechen entlassen, mir die Nebelwälder zu zeigen“, entgegnete ich mit Nachdruck.
Nun war es an Xerus, überrascht zu reagieren. „Das willst du nicht? Kannst du mir weiterhin vertrauen?“
Ich legte meine Hand auf die seine. Xerus zuckte erneut zusammen, zog seine Hand jedoch nicht weg. „Warum sollte ich dir jetzt weniger trauen als zuvor, Xerus? Auch wenn du der Sohn und Bruder zweier grausamer Herrscher bist – du bist weder dein Vater noch dein Bruder! Ich danke dir für deine Offenheit. Was du mir berichtet hast, macht mich traurig; Angst macht es mir nicht.“ Ich musste kurz daran denken, dass in der Kieselwüste ein Mann lebte, der Mutter und Vater getötet hatte und womöglich noch immer seinem Bruder nach dem Leben trachtete. Kein beruhigender Gedanke! „Zumindest macht es mir keine Angst vor dir; ich fühle für dich Zuneigung und Achtung. In deinen Augen sehe ich tiefes Mitgefühl mit den Kasha und allem Lebenden, Freundlichkeit und Schmerz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du der Macht und der Zerstörungswut der schwarzen Magie verfallen könntest, der dein Vater und dein Bruder erlagen. Wenn ich dich richtig verstanden habe, hast du dem Druck deines Vaters widerstanden, dich ebenfalls der schwarzen Magie zu verschreiben, obwohl du niemanden auf deiner Seite hattest. Weshalb solltest du so viele Mondläufe später ihrer Macht erliegen?“
Xerus lächelte; doch sein Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Danke, Lia. Dein Vertrauen ehrt mich. Ich hoffe, dass ich deine Unterstützung und Zuneigung auch verdiene.“
„Davon bin ich überzeugt“, erwiderte ich. Während ich darüber nachdachte, was er mir berichtet hatte, fiel mir etwas von dem wieder ein, was er gesagt hatte. „Du hast von etwas berichtet, was dir vorbestimmt sei. Was meinst du damit? Ich dachte, du glaubst nicht daran, dass der Weg eines Kasha durch den Willen der Götter vorgezeichnet ist.“
„Du hast Recht“, stimmte er mir zu. „Ich glaube nicht an die Orakel und Weissagungen der Kasha außerhalb des Kernlandes. Diese sind nur ein Weg, Kontrolle auszuüben. Vielleicht macht es wenig Sinn, dass ich dennoch den Worten einer Magiekundigen Glauben schenke, wer weiß... Dennoch kann ich nicht anders. Die Worte, die sie vor unzähligen Mondläufen gesprochen und niedergeschrieben hat, lassen mich nicht los – obwohl ich nicht einmal deren genauen Wortlaut kenne... Wie soll ich beginnen? Lange bevor mein Bruder und ich geboren wurden, lebte im Kernland die alte Magiekundige Horkrata. Sie war eine Heilkundige, aber auch eine Schwarzmagierin und wurde von den Kasha des Kernlandes verehrt und gefürchtet. Nicht einmal der Herrscher der schwarzen Wüste wagte es, Hand an sie zu legen. Horkrata war eine Nachfahrin des Schatten. Von ihm hatte sie ihre magischen Kräfte geerbt, die in ihr stark waren wie in keinem anderen seit vielen Generationen. Immer wieder wurde sie von Anfällen heimgesucht, in denen sie das Bewusstsein verlor und Bilder und Ereignisse sah, die nach Meinung der Kasha aus der Zukunft stammten. Es heißt, dass einige ihrer Weissagungen schon zu ihren Lebzeiten eintraten. Eine ihrer Weissagungen betraf zwei Brüder. Geboren in aufeinander folgenden Mondjahren im finstersten Teil des Winters. Beide vom Blut des Schatten, beide Söhne des Herrschers der schwarzen Wüste. Einer würde dem Vater folgen, der andere jedoch dessen Herrschaft ein Ende bereiten.
Weitere Kostenlose Bücher