Das dunkle Labyrinth: Roman
fehlte. Als Hester ihm ins Gesicht schaute, stellte sie erschrocken fest, dass wahrscheinlich auch er nicht älter als vierzig Jahre war, wenn überhaupt.
Sutton befahl Snoot zu sitzen, dann wandte er sich an die Frau. »Mrs. Collard«, sagte er freundlich, »das is’ Mrs. Monk, die auf der Krim ein paar von unseren Soldaten gepflegt hat und jetzt in der Portpool Lane eine Klinik für die Armen betreibt.« Was für eine Art von Armen das waren, erläuterte er nicht näher. Er wandte sich zu dem Mann um. »Und das is’ Andrew Collard. Er hat früher in den Tunneln gearbeitet.«
»Guten Tag, Mrs. Collard, Mr. Collard«, sagte Hester förmlich. Seit langem schon sprach sie alle Menschen auf die gleiche Weise an und verzichtete bewusst darauf, ihre Wortwahl der jeweiligen gesellschaftlichen Schicht anzupassen, mit der sie es gerade zu tun hatte. Zu fragen, warum Andrew Collard nicht mehr in den Tunneln arbeitete, erübrigte sich.
Collard nickte und antwortete mit fast unverständlichen Worten. Ihm war deutlich anzusehen, wie peinlich es ihm war – und vielleicht schämte er sich deswegen sogar -, dass er nicht aufstehen konnte, um eine Dame in seinem armseligen Haus willkommen zu heißen.
Hester wusste nicht, was sie tun konnte, um ihm die Befangenheit zu nehmen. An und für sich hatte sie viel Erfahrung mit verletzten und verstümmelten Soldaten. Sie hatte genug Kriegsopfer gesehen und mehr als genug mit Krankheiten geschlagene Menschen, die vom Fieber verzehrt und oft nicht mehr in der Lage waren, ihre Körperfunktionen zu beherrschen. Doch das hier war etwas anderes. Hier war sie keine Krankenschwester, und die zwei Menschen ihr gegenüber hatten keine Ahnung, warum sie gekommen war. Einen Moment lang ärgerte sie sich über Sutton, weil er sie einfach mitgeschleift und den beiden aufgezwungen hatte, ohne sie zu fragen. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, sonst hätte er ihren Zorn bemerkt. Und dann hätte sie sicher etwas Böses gesagt, nur um es später bitter zu bereuen. Sie stand in seiner Schuld, egal, was sie jetzt gerade empfand.
Mit leiser Stimme, als spürte er Hesters Groll und den Grund dafür, brach Sutton das Schweigen. »Wir sind gerade unten gewesen und haben uns die Arbeiten angeschaut«, begann er, an Andrew Collard gewandt. »Im Moment friert es, und es gibt nich’ viel Regen, aber trotzdem rinnt es ganz schön. Wie lange, meinst du, dauert es, bis die ersten Balken verfaulen?«
Mrs. Collard spähte von einem zum anderen, dann forderte sie Essie auf, vor dem Haus zu spielen.
Mr. Collard räusperte sich. »Sie kommen so schnell voran, dass das nix ausmacht«, brummte er schließlich. »Dass das Holz fault, is’ nich’ so schlimm, das Problem sind die großen Maschinen, die alles da unten erschüttern. Und die Sache wird noch viel gefährlicher, wenn sie nich’ vernietet werden, wie es sich gehört. Nur Gott selber weiß, was unter diesen verfluchten Monstern alles durcheinandergerüttelt wird.«
»Vernietet?«, fragte Hester hastig. »Werden sie nicht irgendwie eingegraben?«
»Bloß auf Pfähle gestellt«, erwiderte Collard. »Aber sie schlackern weg, wenn sie nich’ fest verankert werden. Diese Maschinen sind stärker als alle Pferde, die Sie je gesehen haben, Miss. Am Anfang sehen die Pfähle ja ganz massiv aus, aber nach ein, zwei Stunden wackeln sie wie Pudding. Aber dann muss die ganze Maschine sowieso schon wieder gut zehn Meter nach vorn geschafft werden, wo’s weitergeht. Und das dauert natürlich. Das heißt...«
»Ich verstehe«, unterbrach sie ihn. »Sie verlieren Zeit, wenn sie alles aufschrauben, die Maschine vorschieben, sie wieder vernieten und aufheizen. Und je fester sie sie vernieten, desto länger dauert es, sie ein Stück weiter vor zu schaffen.«
»Ja, genau!« Collard starrte sie einigermaßen verbüfft an, weil sie so schnell begriffen hatte.
»Arbeiten denn nicht alle Firmen nach derselben Methode?«, fragte sie.
»Die meisten. Die einen sind vorsichtiger, die anderen weniger. Sie haben auch nich’ alle dieselben Maschinen. Aber darauf kommt’s gar nich’ so an. Worauf es ankommt, is’, dass die Erde nie dieselbe is’. Wer schon mal gegraben hat, weiß, dass Chelsea nich’ so is’ wie Lambeth und dass Rotherhithe was ganz was anderes is’ als die Isle of Dogs.« Er sah sie eindringlich an. »Es gibt ja so viele verschiedene Arten von Boden: Lehm, Fels, Schiefer, Sand. Und natürlich gibt’s auch Bäche und Quellen, aber darüber weiß Sutton noch
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