Das dunkle Labyrinth: Roman
nich’ verlieren will und weil niemand seine Angst sehen soll.«
»Haben sie wirklich Angst?«
»Und wie!« Er sah sie besorgt an. »Oh, Miss Hester, Sie müssen ja halb erfroren sein. Ich bring Sie zu’nem Kumpel’ne halbe Meile von hier. Der macht uns eine Tasse Tee. Kommen Sie.« Und ohne ihre Einwilligung – oder womögliche Ablehnung – abzuwarten, trat er den Rückweg über den Schutthaufen an. Wie immer war der Hund an seiner Seite und sprang schwanzwedelnd über Geröll und verfaulendes Holz. Hester hatte Mühe, mit dem Rattenfänger Schritt zu halten. Das Tempo verübelte sie ihm jedoch nicht, denn sie wusste, was ihn zur Eile anspornte – die Furcht, dass es zu einer Tragödie kommen würde, bevor er auch nur das Geringste unternehmen konnte, um sie zu verhindern.
In der halben Stunde, die es dauerte, bis sie sich durch das Geflecht von engen Straßen und Gassen ihren Weg gebahnt hatten, redeten sie kein Wort, sondern schwiegen in stillem Einvernehmen. Sutton achtete sorgfältig darauf, an Hesters Seite zu bleiben und sie hin und wieder vor steilen Stufen oder besonders unwegsamen oder rutschigen Stellen zu warnen.
Hester fragte sich, ob er hier aufgewachsen war. In der kurzen Zeit, die sie sich kannten, waren sie nie dazu gekommen, über solche Dinge zu sprechen, noch hatten sie das Bedürfnis danach gehabt. Bis heute hatte sie nicht gewusst, dass Suttons Vater ein Tosher gewesen war. Aber die Kloaken nach versehentlich hinuntergespülten Schätzen abzusuchen und die aus der Unterwelt nach oben schwappende Rattenplage einzudämmen waren eng miteinander verbundene Berufe, auch wenn der des Rattenfängers einen besseren Ruf hatte. Der Tosher wäre bestimmt stolz auf seinen Sohn gewesen. Noch stolzer hätte er freilich auf seinen Mut und seine Menschlichkeit sein müssen.
Die Straßen waren recht belebt, Kohlenkarren ratterten über das Kopfsteinpflaster, an der nächsten Ecke hielt ein Straßenhändler Obst und Gemüse feil. Der Anblick eines Hausierers, der mit Knöpfen unterwegs war, erinnerte Hester daran, dass ihr Nähkorb dringend nachgefüllt werden musste – wenn auch nicht jetzt. Sie strengte sich an, um weiterhin mit Sutton Schritt zu halten. Frauen, die mit Eimern voller Wasser, Kleiderbündeln oder Lebensmitteln beladen waren, eilten an ihnen vorüber. Sie machten einen Bogen um ein halbes Dutzend Kinder, von denen die einen Seil hüpften und die anderen Murmeln warfen. Einen Augenblick lang verspürte sie den brennenden Wunsch, etwas für sie zu tun – ihnen zu essen geben, Stiefel, irgendetwas. Sie drängte diesen Gedanken zurück. Hunde, Katzen und sogar zwei Schweine wühlten voller Hoffnung in Abfällen herum. Es war immer noch schrecklich kalt.
Schließlich blieb Sutton vor einer schmalen Tür mit abblätternder Farbe stehen. Fenster oder einen Briefkasten gab es nicht. An manchen Orten stellte man genauso aussehende Fassaden auf, um dahinter verlaufende Eisenbahnschienen zu verbergen, doch hier fehlte der Briefkasten einfach deshalb, weil keine Post erwartet wurde. Und wie bei den anderen Türen gab es keinen Klopfer.
Sutton schlug mit der flachen Hand gegen das Holz und trat einen Schritt zurück.
Ein paar Minuten später öffnete ein etwa zehnjähriges Mädchen die Tür. Ihr Haar war mit einem hellen Stoffband zusammengebunden, und ihr Gesicht war sauber, doch sie hatte keine Schuhe an. Ihr Kleid war offenbar aus einem grö ßeren zusammengeflickt worden und bot reichlich Platz, sodass sie es noch zwei Jahre würde tragen können.
»Hallo, Essie. Is’ deine Mama da?«, fragte Sutton.
Sie lächelte ihn schüchtern an, dann drehte sie sich wortlos um und ging voran in die Wohnung.
Hester und Sutton folgten. Die Aussicht auf etwas Wärme drängte inzwischen alles andere in den Hintergrund.
Essie führte sie durch einen engen, kalten Gang, in dem es nach Schimmel und altem Essen roch, zu dem einzigen Raum, in dem geheizt wurde. Die Wärme kam von einem kleinen Herd, auf dessen Platte nicht mehr als ein Topf und ein Wasserkessel Platz hatten. Ihre Mutter, eine grobknochige Frau von vielleicht vierzig Jahren, die allerdings viel älter wirkte, kratzte gerade von einem Häufchen Kartoffeln den schlimmsten Schmutz herunter. Daneben lagen Zwiebeln, die noch zubereitet werden mussten.
In der Ecke, die dem Herd am nächsten war, saß ein großer Mann mit einem alten Mantel über den Knien. So wie die Falten fielen, war zu erkennen, dass der größte Teil des rechten Beins
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