Das dunkle Labyrinth: Roman
sich schon den Mund verbrennen und die Arbeit verlieren? Wer ernährt dann die Kinder?«
Collard bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl, der für ihn zum Gefängnis geworden war. Sein Gesicht war noch schlimmer von seinen Schmerzen verwüstet, als Hester auf den ersten Blick gemeint hatte. Wahrscheinlich war er erst Mitte dreißig. Bis zu dem Unglück musste er ein gutaussehender Mann gewesen sein.
»Ach, Andy, sie hat’s schon verstanden«, sagte seine Frau müde. »Hat doch keinen Sinn, so zu tun, als ob. Darauf verlassen sich diese Dreckskerle doch! Jeder von euch bildet sich mordsmäßig was drauf ein, dass ihm keiner seine Angst davor anmerkt, dass er der Nächste is’, den’s erwischt...«
»Sei still, Frau!«, blaffte Collard. »Du hast keine Ahnung! Die Kumpel sind nich’ …«
»Und ob sie’s wissen!«, fuhr sie ihm über den Mund. »Sie sind ja nich’ dumm! Ihnen is’ klar, dass es eines Tages passieren wird und weiß Gott wie viele dabei draufgehen werden. Sie sagen bloß deshalb nix, weil sie lieber morgen ertrinken oder erschlagen werden, als dass sie heute verhungern und zusehen, wie ihre Kinder auch verhungern. Steckt nur weiter den Kopf in den Sand! Was ich nich’ weiß, macht mich nich’ heiß, oder wie?«
Er wich ihrem Blick aus. »Von irgendwas muss man leben.«
Sutton beobachtete Hester. Sein schmales Gesicht wirkte bedrückt.
»Natürlich muss man das«, bestätigte Hester. »Und die neuen Kanäle müssen gebaut werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Great Stink zurückkehrt oder wir wieder Typhus und Cholera in den Straßen haben. Und noch mal eine Katastrophe wie am Fleet-Kanal will bestimmt niemand erleben, die dann womöglich noch schlimmer wäre. Aber es steckt einfach zu viel Geld dahinter, als dass einer von sich aus etwas unternehmen würde. Es muss ein Gesetz geben, eines, das sich durchsetzen lässt.«
»Nie wird’s das geben«, stieß Collard bitter hervor. »Nur Männer, die Geld haben, dürfen fürs Parlament wählen. Und die Gesetze macht nun mal das Parlament.«
»Unter den Häusern von Männern mit Geld verlaufen mehr Abwasserkanäle als unter Ihrem oder meinem«, gab Hester in sanftem Ton zu bedenken. »Ich denke, wir können den einen oder anderen Weg finden, sie daran zu erinnern. Zumindest können wir es versuchen.«
Collard saß jetzt wieder ruhig auf seinem Stuhl. Langsam wandte er sich zu Sutton um und versuchte, in seinem Gesicht abzulesen, ob er Hester zutraute, dass sie meinte, was sie sagte.
»Genau!«, rief Sutton. Er drehte sich zu Mrs. Collard um. »Wie sieht’s jetzt mit Tee aus, Lu? Das Wasser auf dem Herd is’ inzwischen doch kälter als die …« Er unterbrach sich. Gerade noch rechtzeitig war ihm eingefallen, dass Hester neben ihm saß. »Als das Herz von’ner Hexe«, schloss er diplomatisch.
Collard verbarg ein Grinsen.
Lu funkelte ihn an, dann schenkte sie Hester plötzlich ein Lächeln, das erstaunlich gute Zähne offenbarte. »O ja, natürlich«, sagte sie.
Nachdem der Maurer endlich fertig geworden war, verbrachte Hester den Abend mit Aufräumen und Putzen. Jetzt waren nicht nur die Wände vollkommen glatt und tapezierfertig, sondern auch die Decke war an den Rändern mit elegantem Stuck verziert, und in der Mitte prangte eine wunderschöne Steinrose für den Kronleuchter. Während Hesters Hände mit Besen, Kehrschaufeln, Bürsten und Lumpen beschäftigt waren, weilten ihre Gedanken bei dem Versprechen, das sie Andy Collard gegeben hatte, und – wichtiger noch – bei Sutton. Sutton hatte sie daran erinnert, dass das Parlament die Gesetze machte. Woanders brauchte sie erst gar nicht anzufangen. Die Frage war nur, an welchen Abgeordneten sie sich am besten wandte.
Als Monk nach Hause kam, führte sie ihm stolz die Fortschritte vor, die die Renovierung des Hauses machte, und erkundigte sich nach seinen Erfolgen. Über Sutton oder dessen Interesse am Bau der neuen Abwasserkanäle verlor sie kein Wort. Das war das Einfachste, denn Täuschungsmanöver waren nicht ihre Sache. Der mutmaßliche Selbstmord von Mary Havilland bedrückte sie zutiefst, nachdem die junge Frau doch erst vor kurzem ihren Vater unter Umständen verloren hatte, die Hester viel besser verstand, als ihr lieb war. Sie hatte schon geglaubt, sie hätte ihren Verlust verarbeitet und die Wunde wäre geheilt, doch jetzt kam es ihr eher so vor wie ein vor langer Zeit gebrochener Knochen, der bei kaltem Wetter plötzlich wieder wehtat; sie kam nicht an die Quelle
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