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Das dunkle Labyrinth: Roman

Das dunkle Labyrinth: Roman

Titel: Das dunkle Labyrinth: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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versuchte, sich vorzustellen, wie es wäre, in diesem tiefen Spalt zu arbeiten, nichts zu sehen außer einem winzigen Himmelsstreifen über sich, und zu wissen, dass man dem ganzen Tag nicht rauskam. »Wo geht es nach oben?«, fragte sie fast unwillkürlich.
    »Halbe Meile von hier«, antwortete er ruhig. »Gut zu laufen, wenn man’s nich’ eilig hat. Scheußlich, wenn’s schnell gehen muss – weil zum Beispiel was kommt.«
    »Wenn was kommt? Meinen Sie eine Flutwelle … oder so etwas? Sie meinen nicht einfach Regen?« Wieder spähte sie zu der Holzwand hinüber und stellte es sich vor – ein Wasserstrahl, der jäh die Abdichtung sprengte, kein bloßes Tröpfeln wie im Moment noch. Würde die Flut das Gewölbe füllen? Würden sie darin ertrinken? Aber natürlich! Und wer konnte in einem so tiefen Loch wie hier schwimmen, wenn eiskaltes Wasser sich über ihn ergoss?
    »Das hier is”ne Kloake«, sagte Sutton gelassen. »Die Kloaken von London nehmen alles auf, den ganzen Schmutz von den Häusern und Abfallhaufen in der alten Stadt und auch von den Gullys und Brunnen und was sonst überall so abläuft. Was’n echter Tosher und Kanalauskehrer is’, kennt die Gezeiten und alle Bäche und Quellen und achtet auf den Regen, denn wer das nich’ macht, lebt nich’ lange. Und dann gibt’s natürlich noch die Ratten. Gehen Sie nie allein da runter. Sie brauchen bloß ausrutschen und hinfallen, und schon gehören Sie den Ratten! Die nagen einen in null Komma nix ab bis auf die Knochen. Und sie sind wirklich überall! Hunderttausende gibt’s da unten!«
    Snoot hatte beim Wort Ratten die Ohren angelegt.
    Hester sagte nichts.
    »Und dann is’ da noch das Gas«, fügte Sutton hinzu.
    »Das Gas, für das dieses Rohr vorgesehen ist?«, fragte Hester und deutete auf ein Rohr, das fünf Meter unter ihnen den Erdspalt diagonal kreuzte und offenbar vor der Grabung verlegt worden war.
    Sutton grinste. »Nein, Miss Hester, das is’ Gas für Lichter und was weiß ich noch alles in den Häusern. Was ich meine, is’ das Gas, das sich unter der Erde sammelt und aus dem Zeug kommt, für das die Kloaken da sind. Sie wissen schon. Es heißt Methan, verstehen Sie, und wenn die Luft oder das Wasser es nich’ mitnehmen, dann wird es immer mehr und kann einen ersticken. Und wenn irgend so ein Trottel einen Funken schlägt, mit trockenem Holz oder mit Stahl auf Stein, dann macht’s bumm!« Er riss die Arme weit auseinander, um eine Explosion anzudeuten. »Oder es gibt den Steinschlag, zu dem es in Kohlebergwerken und so was manchmal kommt. Der is’ genauso tödlich.«
    Erneut sagte sie nichts, sondern versuchte, sich auszumalen, wie es war, wenn man keinen Beruf erlernt hatte und einem nichts anderes übrig blieb, als unter solch entsetzlichen Bedingungen unter der Erde zu schuften. Andererseits hatte sie schon einmal Erdarbeiter kennen gelernt. Auf der Krim war das gewesen. Und freundlichere, fleißigere Menschen hatte sie noch nie getroffen. Mitten im Winter, unter Bedingungen, die jeder andere als unmöglich bezeichnet hätte, hatten sie für die Soldaten in einem wilden, teilweise noch unvermessenen Land eine Eisenbahn gebaut. Und sie hatten hervorragende Arbeit geleistet! Allerdings wenigstens unter freiem Himmel.
    Die große Dampfmaschine hämmerte noch immer und erschütterte die Erde mit ihrer gewaltigen Kraft, mit der sie Lasten bewegte, die Menschen oder Tiere nie hätten bewältigen können. Meter für Meter wurden so die Abwasserkanäle gebaut, die London zu einer sauberen Stadt machen sollten, frei von den Typhus-und Choleraepidemien, die so vielen einen qualvollen Tod gebracht hatten.
    »Es is’ dieses verfluchte Ungetüm, das mir solche Sorgen macht«, murmelte Sutton, ohne den Blick von der Dampfmaschine zu wenden. »Es gibt noch andere, die noch größer sind als die hier, aber die kann ich Ihnen nich’ zeigen, weil sie noch viel weiter unten sind. Die haben’s alle so furchtbar eilig und passen deswegen nich’ mehr so auf, wie sie sollten. Da braucht bloß ein Rad abgehen oder’ne Kette reißen, und bevor man weiß, was los is’, is’ der Arm weg, oder ein Stützbalken bricht, und die halbe Decke kommt runter.«
    »Sie haben es deswegen so eilig, weil sonst die nächste Epidemie droht, wie beim Great Stink«, widersprach Hester leise.
    »Weiß ich ja. Aber schon auch deswegen, weil jeder den anderen übertrumpfen und vor ihm an den nächsten Auftrag rankommen will. Und keiner sagt was, weil er seine Arbeit

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