Das dunkle Labyrinth: Roman
war ein dürrer Mann mit einem gequält verzogenen Gesicht, das aussah, als wäre der Ausdruck für immer hineingemeißelt. »Zwei Monate später kommen Sie zu mir und wollen wissen, wann genau der arme Mann sich erschossen hat?« Er funkelte Monk wütend an. »Haben Sie nichts Besseres zu tun? Fangen Sie lieber Diebe! Bei meinen Nachbarn ist letzte Woche eingebrochen worden! Was halten Sie davon?«
»Metropolitan Police«, entgegnete Monk nicht ohne Befriedigung. »Ich gehöre der Wasserpolizei an.«
Der Arzt schnaubte. »Gut, der arme Havilland ist durch eine Kugel gestorben«, blaffte er. »Kein Tropfen Wasser weit und breit, nicht mal aus einem Wasserhahn, und schon gar nicht aus dem gottverdammten Fluss!« Er starrte Monk triumphierend an. »Sprich: Die Sache geht Sie einen feuchten Kehricht an, Sir!«
Monk bezähmte seinen Zorn nur deshalb, weil er die Auskunft dringend benötigte. »Seine Tochter glaubte, dass er ermordet wurde...«
»Ich weiß!«, unterbrach ihn der Arzt. »Die Trauer hat ihre Nerven zerrüttet. Es ist wirklich ein Jammer, aber gegen Trauer gibt es kein Heilmittel, außer vielleicht beim Pfarrer. Nicht mein Fachgebiet.«
»Ihr Tod trat eindeutig durch Ertrinken in der Themse ein«, fuhr Monk fort. »Ich habe sie mit eigenen Augen stürzen sehen. Und es könnte Mord gewesen sein.« Voller Genugtuung sah er, wie der Arzt erschrak. »Leider hat der junge Mann, der sie möglicherweise gestoßen hat, selbst das Gleichgewicht verloren und ist mit in die Tiefe gestürzt. Beide waren tot, als wir sie herauszogen. Ich muss Mary Havillands Anschuldigung überprüfen, und sei es auch nur, um einen Schlussstrich zu ziehen – um beider Familien willen.«
»Oh. Warum, zum Henker, haben Sie’s nicht gleich gesagt, Mann?« Der Arzt wandte sich ab, öffnete eine Schublade und begann, in einem Stoß Dokumente zu wühlen. »Idiot«, murmelte er in seinen Bart hinein.
Monk wartete.
Schließlich zog der Mann zwei Bogen heraus und schwenkte sie triumphierend. »Da haben wir’s schon. Sehr kalte Nacht. Lag im Stall auf dem Boden. Wärmer als draußen, kälter als im Haus. Die Untersuchung ergab, dass er nicht später als zwei Uhr in der Nacht und nicht früher als zehn Uhr am Abend gestorben ist. Aber ich erinnere mich, dass er laut der Aussage der Bediensteten um elf noch auf war. Das gibt Ihnen einen Rahmen.«
»Irgendwelche medizinischen Beweise dafür, dass er sich selbst erschossen hat?«
»Wie? Mein guter Mann, das ist Aufgabe der Polizei! Die Pistole lag auf dem Boden, an der Stelle, wo sie runtergefallen sein dürfte. Wenn Sie mich fragen, ob der Schuss aus kürzester Entfernung abgegeben wurde, ist die Antwort ja. Das beweist jedoch nicht, dass er es selber getan hat. Oder dass er es nicht getan hat.«
»Irgendwelche Spuren eines Kampfes – Blutergüsse, Kratzwunden? Oder haben Sie nicht darauf geachtet?«
»Natürlich habe ich darauf geachtet! Und, nein, keine Verletzungen. Es hat keinen Kampf gegeben. Entweder hat er sich selbst erschossen, oder derjenige, der ihn getötet hat, hat ihn überrascht. Jetzt verschwinden Sie endlich und beerdigen Sie die Toten ordentlich. Und lassen Sie mich mit der Arbeit weitermachen, die einen Sinn hat! Guten Tag, Sir.«
»Herzlichen Dank«, erwiderte Monk sarkastisch. »Ich muss sagen, es ist wirklich gut, dass Sie sich um die Toten kümmern. Bei den Lebenden würden Sie mit Ihren Manieren nicht weit kommen. Guten Tag, Sir.« Bevor der Arzt etwas entgegnen konnte, machte er auf dem Absatz kehrt und stürmte hinaus.
Es ging bereits auf vier Uhr zu, und die Winterdämmerung senkte sich über London. Es war schon merkwürdig, dass das Wetter immer noch schlechter wurde, obwohl die Tage nach Weihnachten wieder stetig länger wurden. Leichter Schneefall hatte eingesetzt, und nach ein, zwei Stunden würde der Schnee gewiss liegen bleiben. Mit den Händen in den Taschen, die Schultern hochgezogen, marschierte Monk los.
Es hatte also eindeutig keinen Kampf gegeben. Spuren eines Einbruchs lagen auch nicht vor, und nichts war gestohlen worden. Jemand hatte Havilland eine Nachricht geschickt und ihn mit ziemlicher Sicherheit um ein Treffen im Stall gebeten. Entweder hatte diese Person Havilland überrascht und erschossen, um die Tat dann wie Selbstmord aussehen zu lassen, oder aber Havilland hatte sich selbst die Kugel gegeben, und zwar vermutlich nachdem der Besucher gegangen war.
Falls Ersteres zutraf, hatte der Täter sich beträchtliche Mühe gegeben, die
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