Das dunkle Labyrinth: Roman
jemals zugetraut hätte. Hesters Sanftheit reichte tiefer als bloße Anmut. Ihre Leidenschaft, ihre Zärtlichkeit waren immer ehrlich; sie waren kein Deckmantel für Gleichgültigkeit oder mangelnden Mut zu Auseinandersetzungen und schon gar nicht für fehlende Streitlust. Und nie und unter keinen Umständen hinderten sie sie daran, eine klare Meinung zu vertreten.
Vor Hester hatte Monk sich nur in stille, zurückhaltende Frauen verliebt, die nie mit ihm stritten, und dann gemerkt, dass er verzweifelt einsam war. Nichts an ihnen hatte ihn so tief berührt, dass es ihm unter die Haut ging.
Wie war das bei Toby Argyll gewesen? Hatte er den Mut gehabt, Mary zu lieben? Oder hatte er sie als zu anstrengend empfunden? Hatte sie zu sehr an seiner Eitelkeit gekratzt?
»Sie sagen, ihm gefielen ihre Meinungen nicht, Mrs. Kitching. Aber war er in sie verliebt?«
Zum ersten Mal in diesem Verhör verriet sie Unsicherheit, was ihrem Gesicht anzusehen war.
»Ich habe oft Meinungsverschiedenheiten mit meiner Frau«, meinte er mit einem matten Lächeln, »und nur selten gehe ich daraus als Sieger hervor. Wenn sie jemals ihre Ansicht ändert, dann geben Gründe den Ausschlag, nicht Menschen. Und dennoch liebt sie mich und steht in allem zu mir, in guten wie in schlechten Zeiten. Das weiß ich, weil sie es bewiesen hat, ohne sich je meiner Meinung zu fügen, wenn sie eine andere hatte.«
Sie starrte ihn an und schüttelte langsam den Kopf. »Dann hätten Sie Mr. Toby nicht gemocht«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. »Er verlangte Gehorsam. Er hatte Geld, verstehen Sie, und großen Ehrgeiz. Und er war intelligent.«
»Intelligenter als sein Bruder?«, fragte Monk eilig.
»Das weiß ich nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass er sich dafür hielt.« Jäh bemerkte sie, dass sie ihrer Meinung vielleicht zu deutlich Luft gemacht hatte. Ein Anflug von Panik zuckte über ihr Gesicht, um sogleich wieder zu verschwinden. Sie spürte das Gefühl einer neuen, bis dahin nie für möglich gehaltenen Freiheit.
Obwohl die Stimmung ernst war, lächelte Monk sie unwillkürlich an. Cardman wäre jetzt gewiss entsetzt gewesen. Monk überlegte, wie das Verhältnis zwischen den beiden sein mochte. Oberflächlich? Oder hatte es ihnen ihr Status verboten, eine gewiss anstrengende, aber auch erfüllende Liebesbeziehung einzugehen?
Er verwarf diesen Gedanken. »Mr. Argyll war anders? Und muss man sich Mrs. Argyll so wie ihre Schwester vorstellen?«
Mrs. Kitchings Züge verhärteten sich. »Mr. Alan ist ein sehr gescheiter Mann, viel gescheiter, als Mr. Toby dachte«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Mr. Toby mag geglaubt haben, dass er ihn mit der Zeit überflügeln könnte, aber das wäre ihm nicht gelungen. Das hat mir Miss Mary gesagt. Nicht dass ich mir das nicht schon selber gedacht hatte. Dazu hatte ich die beiden bloß einmal im Salon zu sehen brauchen. Miss Jenny ist eine Realistin. Eine Träumerin wie Miss Mary ist sie nie gewesen. Nicht so kompliziert. Verlangt nie das Unmögliche und stürzt sich nicht in Schlachten, die sie nicht gewinnen kann. Sie ist Mr. Alan eine gute Frau. Wahrscheinlich dachte Mr. Toby, mit Miss Mary würde es genauso sein. Na ja, da täuschte er sich!« Letzteres stieß sie mit beträchtlicher Genugtuung hervor. Dann fiel ihr wieder ein, dass Mary tot war. Tränen begannen ihr über die Wangen zu strömen, und diesmal schaffte sie es nicht, ihnen Einhalt zu gebieten.
Monk war verlegen und ärgerte sich über sich selbst. Warum sollte ihm so etwas peinlich sein? Diese Frau empfand aufrichtige Trauer. Das war nichts, weswegen sie sich entschuldigen musste.
Er bedankte sich herzlich bei ihr, dann verabschiedete er sich.
Bis zur Mittagszeit fand sich Monk wieder bei der Baustelle ein. Diesmal traf er Aston Sixsmith an der Oberfläche an, wo sie ungezwungen miteinander sprechen konnten. Es hatte keinen Sinn, ihn wegen Mary zu befragen. Von ihm würde er wohl kaum etwas Hilfreiches erfahren, aber vielleicht konnte er etwas über die Beziehung zwischen den zwei Brüdern sagen. Freilich war Monk klar, dass er sich diesem Thema äu ßerst behutsam nähern musste. Allein schon um seine Stellung nicht zu verlieren, ganz zu schweigen von persönlicher Rücksichtnahme, würde Sixsmith ihren Ruf schützen.
»Wusste Toby Argyll von Havillands Angst vor den Tunneln?«, begann er. Sie standen auf nacktem Lehm, mindestens zweihundert Meter von der nächsten Maschine entfernt, sodass der Lärm in der
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