Das dunkle Labyrinth: Roman
antwortete Monk. »Zumindest am Anfang sollten wir unsere Leute nicht beteiligen. Niemand wird sich freuen, wenn wir beweisen, dass Havilland emordet wurde, weil dann nur einer der Argylls dahinterstecken kann, oder beide zusammen.«
»Wenn sie einen Mann ermordet haben, um zu vertuschen, was er wusste, dann frage ich nicht, was wem gefällt!«, rief Runcorn entschlossen. »Ich werde nicht ruhen, bis ich den Mörder habe! Und wenn Toby Argyll sie tatsächlich getötet hat, werde ich nicht zulassen, dass dieses Mädchen weiterhin als Selbstmörderin in dem Loch vor dem Friedhof verscharrt bleibt! Wo fangen wir an? Nein, Sie befehlen mir nichts. Ich gebe Ihnen die Befehle! Es war mein Fall, und ich leite die Ermittlungen.« Er erhob sich, ein großer, zorniger Mann, dem schlimmer Schmerz zugefügt worden war. »Wir beginnen noch einmal von vorn, und zwar in der Straße, in der Havilland lebte. Ich weiß, dass keiner von den Brüdern es selbst getan haben kann – beide konnten belegen, dass sie zur fraglichen Zeit woanders waren. So weit bin ich damals aufgrund von Marys Angaben gekommen. Toby war hundert Meilen von hier entfernt in Wales, und Alan befand sich im Beisein von hundert Zeugen auf einer Party am anderen Ende der Stadt. Allein dem Wort seiner Frau hätte ich nicht geglaubt, aber wenn zwanzig Parlamentsabgeordnete es bestätigen, bleibt mir nichts anderes übrig. Doch wer immer Havilland erschossen hat, muss im Stall gewesen sein. Vielleicht hat ihn jemand gesehen, gehört oder sonst etwas bemerkt.«
Monk folgte ihm eilfertig. Neben Runcorn durch die unwirtlichen, kalten Straßen Londons zu marschieren, bedeutete auch, Relikte einer verlorenen Vergangenheit zu bergen. Es war wieder kälter geworden, und der Wind hatte sich gelegt. Auf den Pflastersteinen hatte sich eine glatte Eisschicht gebildet, und der Schnee begann liegen zu bleiben. In dem gespenstischen Halbdunkel zwischen den Laternen konnten sie voneinander nur die Konturen erahnen. Genauso gut hätten sie wieder junge Männer sein können, die einander gar nicht zu sehen brauchten, weil jeder den anderen sofort an der Stimme erkannt hätte: Monks präzise Sprechweise, die Runcorn so sehr bewunderte, da er neben der Bedeutung der Wörter auch ihre Schönheit hörte, und Runcorns gepflegter Ton, aber auch seine fehlende Präzision hinsichtlich der Grammatik.
Sie liefen von einem Platz zum nächsten, trafen auf ein Grüppchen Hansom-Fahrer, die sich rings um ein Kohlebecken kauerten, solange sich keine Kunden zeigten, und sprachen mit Polizisten, die auf Streife waren. Schließlich stellten sie ihre Fragen getrennt, um weniger Zeit zu verlieren, erfuhren aber trotzdem nichts. Dicke, träge Schneeflocken fielen vom Himmel herab ins Laternenlicht und ließen sich leicht wie Federn auf dem Pflaster nieder. Monk fragte sich ernsthaft, wie die Zeit Runcorns Leben verändert hatte, seit sie als zwei Männer gleichen Ranges auseinandergegangen waren. Monk selbst war schwer verletzt worden, hatte seinen Beruf verloren und hatte lange am Rande eines Abgrunds der Angst balanciert. Im letzten Moment war Hester gekommen und hatte ihm geholfen, allen – und in erster Linie sich selbst – zu beweisen, dass er nicht der schreckliche Mann war, vor dem ihm so gegraut hatte.
Materiell gesehen hatte er nicht gerade viel. Sein Ruf war zweifelhaft. Wenn er Befehle erteilen musste, war er immer noch unsicher, und es gab vieles, was er bedauerte, vieles, dessen er sich schämte. Und doch hatte er weit mehr gewonnen, als er verloren hatte. Er hatte viele Fälle geklärt, für die Wahrheit gekämpft und meistens gesiegt.
Und weit über all das hinaus hatte er persönliches Glück gefunden, eine heitere Gelassenheit, die es ihm gestattete, entspannt zu lächeln, sich darauf zu freuen, am Ende des Tages nach Hause zu kommen, wo er sicher sein konnte, dass ihn Liebe, Vertrauen und Hoffnung erwarteten.
Was hatte Runcorn? Was bereitete ihm Freude, wenn er die Bürotür hinter sich schloss und zu einem einfachen Mann in Zivil wurde? Monk hatte keine Ahnung.
In einem Gasthof machten sie Pause und tranken jeder ein Pint Ale und aßen Schweinepastete in Mürbeteig. Dann zogen sie noch einmal los. Obwohl sie bisher nichts erreicht hatten und dies schweigend quittierten, fühlten sie sich einander verbunden. Auf dem weiß überzuckerten Straßenpflaster hinterließen sie schwarze Fußabdrücke. Die weiße Pracht ließ die Straßenlaternen gelb erscheinen wie gespenstische Monde,
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