Das dunkle Labyrinth: Roman
zugleich viel größere Schätze beschert hatte.
Vielleicht wollte Cardman sich aber auch deshalb nicht gehen lassen, weil er sich für die übrigen Bediensteten verantwortlich fühlte, bis sie entlassen wurden und sich mit einem Empfehlungsschreiben von Argyll eine neue Stelle suchen konnten. Von der Familie Havilland war ja niemand mehr übrig, der ihnen hätte helfen können.
Schließlich erkundigte sich Monk, ob er die Haushälterin sprechen könne, und wurde über den Flur zu ihrer Tür geführt, um nach kurzer Nachfrage eingelassen zu werden.
»Guten Morgen, Mrs. Kitching«, begann er.
»Pff.« Mit durchgestrecktem Rücken, als hätte sie einen Stock verschluckt, saß sie ihm gegenüber in ihrem blitzblank sauberen Zimmer, an dessen Wänden Stickereien hingen. Sie musterte ihn von oben bis unten: die Dienstjacke – ein überhaupt nicht passendes Stück, das mehr Last als Zierde war -, die weißen Hemdknöpfe und die edlen Lederstiefel. »Officer bei der Polizei, hm? Und was wollen Sie jetzt von mir? Sie können sich Ihre Zeit sparen: Sie werden von mir kein böses Wort über Miss Havilland hören. Und das Gleiche werde ich auch dem lieben Gott ins Gesicht sagen.«
»Ich möchte wissen, warum sie gestorben ist und wer ihren Tod verursacht hat, Mrs. Kitching«, erwiderte Monk. »Ich würde gern ein bisschen mehr über die anderen Menschen in ihrem Leben erfahren. Kannten Sie beispielsweise Mr. Toby Argyll? Ich könnte mir vorstellen, dass er oft zu Besuch kam, vor allem nach dem Tod ihres Vaters.«
»Und auch davor«, sagte sie eilig.
»Waren sie einander sehr nahe?«
»Hängt davon ab, was Sie damit meinen.« Sie wich ihm nicht aus, sondern wollte offenbar ganz genau sein. Noch nie hatte ihn eine Bedienstete bei einem Verhör so unverwandt angesehen wie sie.
Ihm kam ein neuer Gedanke. »Werden Sie sich eine neue Stellung suchen, wenn alles vorbei ist, Mrs. Kitching?«
»Das hab ich nicht nötig. Ich hab ein bisschen gespart. Ich werde zu meinem Bruder und seiner Frau in Dorking ziehen. Hier bleibe ich nur noch, bis der Haushalt aufgelöst ist.« Sie führte dieses Gespräch zu ihren Bedingungen – das drückte ihr Gesicht unmissverständlich aus. Sie war in jeder Hinsicht unabhängig.
Er lächelte. Sie war die Zeugin, die er gesucht hatte. »Mrs. Kitching, worauf ich hinauswill, ist, ob er in sie verliebt war und sie in ihn.«
Sie stieß einen kleinen Seufzer aus. »Verliebt war sie bestimmt nicht in ihn, aber am Anfang mochte sie ihn recht gern. Er war sehr liebenswürdig, witzig und intelligent.«
»Und er?«
»Ach, sie war eine Schönheit, unsere Miss Mary.« Mrs. Kitching blinzelte und holte tief Luft. Es fiel ihr sichtlich schwer, die Fassung zu wahren. Unvermittelt starrte sie Monk böse an, als sei dies seine Schuld. »Darauf schauen nämlich die meisten Herren zuerst, bis sie eine Frau ein bisschen besser kennen.«
»Und dann?« Er wahrte eine völlig ausdruckslose Miene. Der Gedanke an Marys vom Schmutz der Themse besudeltes totes Gesicht genügte, um jede Spur von Belustigung zu bannen.
»Und dann hätten sie gern, dass man nicht zu viele eigene Meinungen hat«, ergänzte sie spitz und mit Tränen in den Augen.
Monk kam in den Sinn, dass sie vielleicht nicht nur an Mary Havilland dachte, sondern auch eigenen Kummer im Hinterkopf hatte, der lange zurücklag, aber immer noch schmerzte. Viele Köchinnen und Haushälterinnen erhielten den Titel »Mrs.«, obwohl sie nie geheiratet hatten. Damit wurde ihre Reife und Stellung im Haus hervorgehoben. Ähnlich verhielt es sich mit der Bezeichnung »Master« für einen jungen Mann, der mit dem Erreichen der Volljährigkeit zum »Mister« wurde. Es war eine feine Unterscheidung, auf die Monk bisher nie geachtet hatte. Aber eine Frau hatte nun mal nicht den gleichen rechtlichen Status wie ein Mann.
Einmal mehr ertappte er sich dabei, wie sein Mitgefühl für Mary sein Urteil trübte. Er stellte sie sich als eine weiche Frau mit Mut und Ehrgefühl vor, als jemanden, den er gemocht hätte. Aber vielleicht wäre es auch ganz anders gekommen. Schließlich hatte er Hester am Anfang verabscheut! Nein, so stimmte das nicht. Er war von ihr fasziniert gewesen und hatte sich von ihr angezogen gefühlt, aber auch Angst vor seiner eigenen Schwäche gehabt. Damals war er sich sicher gewesen, dass er etwas Unkomplizierteres brauchte: eine weiche Frau, die ihn nicht herausforderte, ihn nicht dazu zwang, stets sein Bestes zu geben oder sogar mehr, als er sich
Weitere Kostenlose Bücher