Das dunkle Lied des Todes
Leuten die Stimmung verdirbt. Wir sind seit einer Woche
ohne Landsicht, und die Leute, die nicht mehr an den von
Pastor Schiøler und seiner Gattin geleiteten Morgenandachten teilnehmen, murren die ganze Zeit. Es ist eine schöne
Sitte und die Frau hat eine klangvolle Stimme und kann die
Choräle auswendig. Obwohl weder mein Bruder noch ich
sonderlich fromm sind, tut uns hier draußen auf dem weiten
Meere ein Bibelwort gut. Der Missionar ist kein Freund des
Meeres und freut sich darauf, wieder unter dem vertrauten
Sternenhimmel zu sein.
Edward hat die erste Hundewache übernommen, um
Steuermann Flint zu entlasten. Ich selbst sitze mit der charmanten Lærke zusammen und sehe mir die Sternbilder des
Südmeers an, als wir nachts Kapstadt umrunden. Wir haben
den Großen Kentauren, die Taube und das gute Schiff Argo
gesehen. Ich kann schon sagen, nach Mitternacht werden
andere Geschichten erzählt. Es tritt eine ganz besondere und
sehr schöne Stille ein, wenn man unter einer Milliarde blinkender Sterne dahinsegelt. Man fühlt sich fast wie ein Teil des
Universums, als entstünde eine bisher unbekannte Verbindung zwischen den Elementen. Ich habe sogar gesehen, wie die
ansonsten so fromme Frau Schiøler ausgestreckt auf Deck
unter dem endlosen Sternenhimmel liegt und dabei einen
Choral aus ihrer Heimat singt.
Was für eine Schwärmerei.
Bootsmann Mortensen hat keine Skrupel und ruft Jesus und
Neptun gleichermaßen an. Lærke behauptet, er sei Muslim
und habe zu Haus in Marstal drei Frauen.
Ich selbst träume von meinem schönen Vaterland und sehne mich unsäglich nach dem dänischen Wetter und kann dessen
Launen nicht genug preisen. Nach so vielen Jahren am
Äquator sehnt man sich nach der klaren Luft zu Lichtmess.
Wir singen Ingemanns Winterlied: »Im Schnee sind Kraut
und Busch verborgen«, obwohl wir in Afrikas tropischer Hitze
sitzen. Ach ja, »und doch singt ein Vöglein vor den Eisblumen«.
Edward und ich haben so viel Swahili und Arabisch gesprochen, dass wir gelernt haben, unsere Muttersprache zu
schätzen. Diese Dinge können die jungen Damen an Bord
aber nicht beeindrucken, sie werfen um sich mit französischen
Brocken und sagen nicht danke, sondern nur merci.
Ich habe versucht, das Haus zu zeichnen, wie ich es seinerzeit für Baumeister Lohse gezeichnet habe. Vielleicht haben
die Schwestern Friis-Hansen meine Erwartungen an das Haus
und die Aussicht aus meinem Arbeitszimmer inzwischen satt,
wo ich an jedem einzelnen Tag das blaue Kattegat genießen
will. Ich habe meine gesamte Korrespondenz mit Meister
Lohse in meinem Ordner, er schreibt über die Auswahl des
Baumaterials und die Unvergänglichkeit des Fundamentes.
Nachtrag: Erst gestern Nacht haben Edward und ich von Tristan da Cunha gehört. Steuermann Flint behauptet, dass die Hottentotten von dort kommen. Seeleute berichten, die Insel bestehe aus einem riesigen Vulkan und sei umgeben von gefährlichem Nebel. Aberglaube, sagt der Missionar, wenn der Bootsmann von den vielen Schiffen erzählt, die auf unerklärliche Weise bei 37° 6’ südlicher Breite und 12°1’ westlicher Länge verschwunden sind.
Jetzt schlägt die Schiffsuhr zwei Glasen, es ist nach Mitternacht. Ich gehe zur Ruhe und lausche Hanf und Tauwerk und dem fernen, aber beruhigenden Schlagen des obersten Fockmastsegels. Mögen alle guten Träume unseren Schlaf begleiten.
10
Wir haben ihn alle in seinem Auto schlafen sehen, einen Herrn mittleren Alters mit einer rot karierten Schirmmütze. Er war nicht hier aus der Gegend.
H. A. Hansen, Bauer
Nacht mit Wellenschlag. Nacht mit flüsternden Stimmen und schleichenden Schritten auf dem Gang. Nacht mit Kopfschmerzen und dem salzigen Geschmack von Tränen im Mund. Sie wusste, dass sie geschlafen hatte. Aber wie lange, hatte sie keine Ahnung. Eine mitfühlende Seele hatte ihr ein Rotweinglas auf den Nachttisch gestellt. Aber vielleicht war das etwas ganz anderes als mitfühlend? Vielleicht war es eine versteckte Anspielung auf ihr früheres Problem? Diese Vorstellung war widerwärtig und – wie sich herausstellen sollte – ungerecht, da der Wein von einem unter dem Fuß des Glases festgeklemmten Briefchen begleitet war.
Liebe Eva, wir haben uns jetzt alle beruhigt
und wir wollen dir sagen, dass wir dich nach vollen
Kräften unterstützen und dir helfen wollen.
Du bist die beste Lehrerin auf der Welt.
Liebe Grüße, Vanessa.
PS: Ich habe meine Geige wieder. Schlaf gut. Bis morgen.
Sie setzte sich im
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