Das dunkle Lied des Todes
neben sie.
»Du hast deine Geige zurück.«
»Ja.«
»War das dein Tuch?«
»Nein, das war nicht meins. Warum willst du das wissen?«
»Wenn es nicht deins war …«
»Ich habe es einfach nur aufbewahrt. In meinem Geigenkasten.«
»Warum sollte es verbrannt werden?«
Vanessa schüttelte den Kopf.
»Möchtest du mir etwas sagen, Vanessa?«
»Ja. Aber das kann ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich kann einfach nicht. Es liegt in mir wie ein Stein. Und ich werde ihn niemals los. Frau Lauberg, die mir Einzelunterricht gibt, sagt, sie kann es meinem Spiel anhören. Dass ich gehemmt bin. Ich werde niemals eine große Geigerin. Egal, wie viele Stunden ich jeden Tag übe. Weil ich gehemmt bin. Frau Lauberg kann es hören.«
Eva nahm Vanessas Hand.
»Du sollst mir nichts erzählen, was mich nichts angeht. Und ich will dich auch nicht aushorchen, aber ich glaube, es ist wichtig, dass du es mit jemandem teilst. Was immer es sein mag. Mit solchen Dingen soll man nicht allein sein. Das ist nicht gut.«
»Tu ich auch nicht. Wir sind doch viele.«
»Ihr seid viele? Wie viele?«
»Elf. Elf kleine Handpuppen.«
Eva ließ sich zurücksinken.
»Handpuppen?«
»Ja, Handpuppen.«
»Meinst du, Frau Wagners Handpuppen?«
»Ich will nicht darüber reden.«
»Aber was hat das mit dem Seidentuch zu tun?«
Vanessa legte sich auf das Bett und drückte sich den Handrücken auf die Augen.
»Wir werden niemals davon befreit sein«, flüsterte sie.
»Ist es wirklich so schlimm?«
»Ja, es ist so schlimm. Es ist viel schlimmer, als du dir vorstellen kannst. Das Schlimmste überhaupt. Aber wir sprechen nie darüber. Es ist verboten, darüber zu sprechen. Dabei ist es das Einzige, was ich will. Denn es ist die ganze Zeit da. Man kann sich nie davon befreien. Und man kann es hören, wenn ich spiele. Selbst bei einer blöden Tonleiter kann man es hören.«
»Kannst du nicht mit Betty darüber sprechen?«
Vanessa gab keine Antwort, drehte sich aber um, als die Tür geöffnet wurde.
Betty sah erst Vanessa an, dann Eva.
»Worüber?«
»Über das große Geheimnis«, sagte Eva.
Betty starrte Vanessa an.
»Was hast du getan, Vanessa?«
»Ich habe nichts getan.«
Eva ging zu Betty, wollte ihre Hand nehmen, aber Betty wich zurück.
»Was machst du hier, Eva? Das ist unser Zimmer.«
»Das weiß ich, Betty. Die Frage, die ich mir stelle, ist, was macht ihr? Vanessa hat mir nichts gesagt, abgesehen davon, dass alle es schon auf die Entfernung von zweihundert Metern sehen können, nämlich dass sie ein gebrochener kleiner Mensch ist.«
Betty setzte sich auf die Bettkante und ließ die Finger durch Vanessas Engelshaare gleiten.
»Bist du gebrochen, Vanessa?«
»Nein«, flüsterte Vanessa. »Ich bin nicht gebrochen, Betty. Ich bin froh, weil ich meine Geige wiederhabe.«
Betty sah Eva an.
»Wir werden Vanessa wieder froh machen. Wie schon gesagt: Das ist eine interne Angelegenheit. Misch dich da nicht ein. Gute Nacht, Eva.«
»Gute Nacht, Betty. Und gute Nacht, Vanessa. Ihr tut mir leid.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Betty. »Denn das Schlimmste ist überstanden.«
Betty schloss die Tür.
Eine Stunde später schlief fast das ganze Haus. Aber irgendwo lag ein buntes Seidentuch. Vielleicht war es zu Asche geworden. Eva wusste es nicht, sagte sich aber, das sei eine interne Angelegenheit. Dieser Ausdruck drehte sich immer wieder in ihrem Kopf, wie eine Bandschleife: Das Schlimmste ist überstanden.
»Das Schlimmste ist überstanden«, flüsterte sie, »aber stimmt das wirklich?
Welche Geheimnisse mochten sie hüten?
Caelum non animum mutant qui trans mare currunt.
Sie hörte es wie einen Chor. Einen leisen Chor aus elf Stimmen. Konzentrische Kreise, in deren Mitte sich ein Albtraum verbarg.
Der überstanden war.
Aber was jetzt?
Was war mit der kleinen Vanessa?
Und was hatte das Tuch mit allem zu tun?
»Den Himmel, nicht das Gemüt wechseln die, die über das Meer fahren.«
Ein Spruch, den sie von ihrer alten Lehrerin gelernt hatten. Auf Latein und auf Dänisch. Man sagt ihn laut und Sesam öffnet sich. Wer steht drinnen? Maria Wagner. Die legendäre Stifterin der besten Musikschule des Landes. Eva war ihr nie begegnet, aber es gab zahllose Geschichten über sie. Sie war eine große Persönlichkeit gewesen, ein strenger Mensch, dem niemand widersprach. Ihr Wort war Gesetz. Sie war wirklich hart, aber gerecht. Machte keine Kompromisse. Auch nicht mit den Lehrern, die gefeuert wurden, wenn sie ihren
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