Das dunkle Lied des Todes
Bett auf, griff nach der Packung mit Aspirin, steckte zwei in den Mund und spülte mit Rotwein nach, spielte mit dem Gedanken an eine Zigarette, überlegte es sich dann aber anders. Es war halb zwei, die Gruppen waren von der für drei Stunden geplanten Nachtwanderung noch nicht zurück. Aber wenn sie noch durch die Dünen streiften, wen hörte Eva dann im ersten Stock?
Sie ging hinaus ins Badezimmer und spritzte sich Wasser ins Gesicht, drehte den Hahn zu und hörte hinten im Gang Stimmen.
»Das verbrennen wir, Anders.«
»Muss das sein?«
»Ja, das muss sein.«
Eva öffnete die Tür und sah Franz, Betty und Anders vor Anders’ Zimmer stehen.
Warum sind sie nicht mit den anderen in den Dünen, warum sind sie hier im Haus? Offenbar hatten sie sich hier verabredet.
Eva knipste das Deckenlicht an.
»Darf man fragen, was hier los ist?«
»Wir sind mit unserer Strecke schon fertig«, sagte Franz.
»Aber ihr gehört doch in verschiedene Gruppen.«
Eva sah Anders an, der vergeblich versuchte, ein Seidentuch zu verstecken.
»Bist du wieder eingeschlafen, Eva?« Betty musterte Eva mit einer Miene, die diese noch nie an ihr gesehenhatte. Eine unangenehme Mischung aus Mitleid und Herablassung.
»Ich bin jetzt wach, Betty. Was habt ihr gemacht?«
»Wir reden eben.« Franz sah Anders an und der öffnete seine Zimmertür.
»Du gehst nirgendwohin, solange ich das nicht erlaube.«
Eva riss Anders das Tuch aus der Hand.
»Was ist das? Wem gehört das?«
»Das gehört mir«, sagte Betty. »Würdest du es mir bitte zurückgeben?«
»Du besitzt Seidentücher, Betty?«
»Das ist von meiner Mutter, wenn du es unbedingt wissen willst.«
»Von deiner Mutter, na gut. Weißt du was, Betty, jetzt lügst du mir voll ins Gesicht. Warum?«
»Weil dich das nichts angeht«, sagte Franz.
Eva achtete nicht auf ihn.
»Was ist los, Anders?«
Er sah plötzlich sehr müde aus.
»Das war vor deiner Zeit, Eva. Und Franz hat recht, es geht niemanden was an und hat nichts mit der Klassenreise zu tun, und mit dir schon gar nicht.«
Er streckte die Hand nach dem Tuch aus.
»Warum wolltet ihr das verbrennen?« Eva lehnte sich an den Türrahmen. »Ist das der Preis dafür, dass Vanessa ihre Geige zurückbekommen hat? Ist es so?«
»Ja«, sagte Anders. »So ist es.«
»Ein Tuch für eine Geige? Aber mich geht das nichts an.«
»Nein«, sagte Franz, »dich geht das nichts an.«
»Das hast du falsch verstanden, Franz, denn es geht mich sehr wohl etwas an. Vanessa geht mich was an. Die Klasse geht mich was an. Ich bin für euch verantwortlich. Was ihr also hinter meinem Rücken anstellt …«
Betty zeigte auf.
»Eva«, sagte sie. »Es ist vorbei. Okay? Vanessa hat ihre Geige. Und jetzt gib Anders einfach das Tuch. Es besteht kein Grund, ein solches Geschrei zu veranstalten.«
Anders streckte wieder die Hand aus. Eva gab ihm das Tuch.
»Wo ist Bromsen?«
»Der ist draußen in den Dünen«, antwortete Betty.
Eva trat von einem Fuß auf den anderen, ihr war bewusst, dass sie den Faden erwischt hatte, der zu dem Spruch führte. Und dass sie auf die übliche Verschlossenheit gestoßen war. Bis hierher und nicht weiter. Die Tür zur Geheimloge war verschlossen. Vor der Tür standen Betty, Franz und Anders Wache. Aber was bewachten sie so eifrig? Ein Seidentuch? Und war es nur ein kindliches Spiel oder eins dieser Rollenspiele, für die manche sich so begeisterten? Wenn ja, dann schien es die Spieler nicht zu amüsieren. Denn es war alles andere als ein Spiel. Es war blutiger Ernst.
In diesem Moment kamen die anderen ins Haus gerannt und der Rest verlor sich in Lachen, Gerangel undder Lösung von Bromsens Rätsel, das niemand hatte lösen mögen. Die meisten waren todmüde und wollten nur ins Bett. Einige behaupteten, JB habe sich in den Dünen übergeben, andere behaupteten, Tineke und Vibe hätten unten am Strand gesessen, aber niemand erwähnte die Tatsache, dass Anders, Franz und Betty sich die ganze Zeit im Haus aufgehalten hatten.
Bromsen lächelte Eva an und fragte, ob sie sich ausgeruht habe, und Eva dachte, hier habe die Kunst der Verdrängung wahrhaft ihren Meister gefunden.
Sie ging nach oben zu Vanessa, die mit ihrer geliebten Geige im Bett saß.
»Bist du jetzt froh, Vanessa?«
Vanessa gab keine Antwort, sondern sah Eva vorwurfsvoll an.
»Stimmt was nicht, Vanessa?«
»Ich werde nie wieder froh sein, Eva.«
»Natürlich wirst du das.«
»Was weißt du denn davon? Was weißt du überhaupt?«
Eva setzte sich
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