Das dunkle Netz der Lügen
die Wohnung des Commissars wohl sein mochte. So finster er aussah, er hatte sich als freundlicher und mitfühlender Mann gezeigt. Lebte er allein und verbrachte seine Abende einsam?
Nein, einsam war er wohl nicht. Fast alle Menschen, denen sie auf dem Weg zu seinem Haus begegneten, grüßten ihn respektvoll, sogar ein paar feine Herren in teuren warmen Mänteln und Zylindern. Schließlich kamen sie zu einem Laden, der über zwei Hausfassaden reichte. «Carolina Borghoff» stand auf einem Schild. «Stoffe und Tuche» über der einen Seite, «Damenkleider» über der anderen.
Als sie ins Haus traten, hörten sie laute Gespräche und Lachen. Borghoff nahm ihr Tuch und Bündel ab und legte beides in den Flur. Dann hängte er die Uniformjacke auf, stellte den Helm auf eine Kommode und schob Zita in eine große Küche. Rund um den größten Küchentisch, den Zita je gesehen hatte, hockten viele Frauen und drei junge Männer und an einem kleinen Tischchen in der Ecke drei Kinder – eine große, fröhliche Gesellschaft, die verstummte, als sie den Raum betraten.
Eine zierliche Frau erhob sich. «Wen hast du uns denn da mitgebracht, Robert?» Zita hatte sich eigentlich vorstellen wollen, doch als sie das Gesicht der Frau sah, schwieg sie erschrocken.
Das kann nicht sein!,
dachte sie.
«Einen Notfall, fürchte ich. Lina, das ist Frau Fredowsky. Ebel hat sie leider den ganzen Tag im Rathaus festgehalten, sodass die Arme sich keine Unterkunft suchen konnte. Ich dachte, sie kann in einer der freien Dachkammern schlafen, nur für heute Nacht.»
Lina kam zu ihnen und begrüßte ihren Gast; Zita sah, dass sie stark hinkte. Der Schreck fiel von ihr ab. Eine Verwechslung, Gott sei Dank eine Verwechslung! Obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass es dieses schöne Gesicht zweimal geben sollte. Artig knickste sie vor der Dame des Hauses.
«Sie müssen müde sein, meine Liebe. Und hungrig!»
Zita nickte.
Wie auf ein geheimes Kommando holte jemand einen Hocker hervor und schob ihn zwischen die ohnehin schon eng stehenden Stühle. Das Hausmädchen deckte einen weiteren Teller und Besteck, ein Becher für den Tee wurde hingestellt, und schon saß Zita mitten unter den Angehörigen des Haushaltes Borghoff, zusammen mit den Näherinnen, deren langer Arbeitstag jetzt vorbei war. Es gab köstliche Bratkartoffeln, in denen sich sogar etwas Speck und aufgeschlagene Eier befanden, und für jeden eine eingelegte saure Gurke. Zita hatte das Gefühl, schon lange nicht mehr etwas so Schmackhaftes gegessen zu haben.
Die Namen der vielen Personen konnte sie sich auf die Schnelle nicht merken, aber sie bekam rasch mit, dass drei der jungen Frauen Näherinnen waren, die vierte, etwas ältere ebenfalls in der Näherei arbeitete. Das etwas mürrische ältere Hausmädchen wohnte auch hier, ebenso wie der junge Hausknecht und seine Frau, die ebenfalls Hausmädchen und Köchin war, und zu denen die drei Kinder an dem kleinen Tisch und das kleine Mädchen, das die junge Frau auf dem Schoß sitzen hatte, gehörten. Dann gab es noch den Ladengehilfen und einen weiteren Hausknecht und natürlich den Commissar und seine Frau.
Ihr selbst wurden nur wenige Fragen gestellt. Als die Näherinnen, der Ladengehilfe und der zweite Hausknecht nach Hause gegangen waren und sich die junge Familie in ihre Räume zurückgezogen hatte, ging Antonie, die Mürrische, nach oben, um das Bett für Zita herzurichten.
«Ich hoffe, der Trubel war Ihnen nicht zu viel», sagte Lina Borghoff.
«Nein. Es war schön. Ich habe schon lange nicht mehr mit solch fröhlichen Menschen zusammengesessen. Essen hier immer alle gemeinsam?»
«Ja. Mittags gibt es oft zu viel zu tun, um alle an einen Tisch zu bekommen, aber abends lassen wir den Tag gewöhnlich gemeinsam ausklingen.» Linas Blick fiel auf Zitas bunten Rock.
Verschämt sah sie zu Boden. «Ich musste nehmen, was ich bekommen konnte», sagte Zita leise.
«Nun, er ist … bunt.» Lina lachte und nahm eine Stufe des Rocks in die Hand. «Aber sehr gut genäht. Die Stoffreste sind offenbar sehr geschickt verarbeitet. Sie verstehen etwas vom Handwerk.»
«Danke.» Zita errötete. «Ich mache das sehr gern. Früher habe ich auch richtige Kleider angefertigt. Nicht aus Stoffresten, meine ich.»
Sie nahm sich ein Herz und sprach aus, woran sie den ganzen Abend gedacht hatte, nachdem ihr klargeworden war, dass sie sich in einer Kleidermacherei befand. «Wenn Ihnen meine Arbeit gefällt, Frau Borghoff, gäbe es vielleicht
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