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Das dunkle Netz der Lügen

Das dunkle Netz der Lügen

Titel: Das dunkle Netz der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Kaffke
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ihre wohlverdiente Bettruhe zu verlängern.
    Es waren nur wenige Reisende angekommen an diesem Morgen. Unter ihnen fiel eine Dame in einem schwarzen Reisekostüm auf. Die Frau war tief verschleiert wie bei einem Trauerfall. Sie war in Begleitung eines Mannes, eines Dieners offensichtlich, denn er trug zwei schwere Reisetaschen.
    Die Arbeiter und die Angekommenen wurden angewiesen, zwei Reihen zu bilden. Hermann reihte sich rechts in die Schlange der Arbeiter ein. Als er der Frau näher kam, sah er, dass sie ihr rotes Haar zu einem dicken Nackenknoten gebunden trug. Hermann beschlich ein ungutes Gefühl, obwohl er nicht sagen konnte, weshalb. Irgendetwas an dieser Frau kam ihm bekannt vor, aber da der Schleier das Gesicht bedeckte, konnte er nicht sagen, ob sie ihm wirklich schon einmal begegnet war.
    Hermanns Reihe schob sich schnell an der anderen vorbei. Einer der Reisenden konnte sich offensichtlich nicht ausreichend ausweisen, und es dauerte einige Zeit, bis die Personalien aufgenommen und der Zweck des Besuchs in der Stadt erfragt war. Der Mann trug ein Gestell und einen Kasten bei sich und war wohl ein reisender Daguerreotypist.
    Verstohlen blickte Hermann zu der Dame, die geduldig in ihrer Schlange stand und ab und zu ein leises Wort mit dem Diener wechselte. Einen Moment sah sie zu ihm herüber, und plötzlich verspürte er den Wunsch, sich unsichtbar zu machen, und fuhr sich mit der Hand, die er zuvor über seine rußverdreckte Arbeitskleidung gestrichen hatte, durch das Gesicht, um es noch schmutziger zu machen.
    Dann hatte er dem Polizeidiener seinen Namen genannt und bekam gerade noch mit, wie die Unbekannte dem jungen Polizeidiener Kramer, der die Reisenden kontrollierte, ihrenNamen nannte und das entsprechende Ausweispapier aushändigte.
    «Hedwig Müller», las der laut. «Was führt Sie nach Ruhrort, Frau Müller?»
    «Besuche bei alten Freunden. Mein Mann ist kürzlich verstorben, und ich suche ein wenig Trost.»
    Diese Stimme. Wohlklingend, nicht zu hoch, samtweich. Noch wollte Hermann es nicht glauben. Auffallend langsam ging er Richtung Stadt und ließ sich schließlich von der Dame und ihrem Diener überholen. Inmitten der nachfolgenden Arbeiter fühlte er sich sicher.
    Sie schien sich auszukennen in der Stadt. Zielsicher steuerte sie das Gasthaus «Heckmann» in der Neustadt an, das sich hochtrabend «Hotel» nannte. Hermann folgte ihnen bis dorthin, dann tat er so, als würde er die Auslagen der gegenüberliegenden Bäckerei betrachten. Die beiden spiegelten sich in den blankgeputzten Scheiben. Vor der Tür des Gasthauses stellte der Diener die Gepäckstücke ab. Und dann lüftete sie kurz ihren Schleier. «Danke, ab jetzt komme ich allein zurecht. Du brauchst nicht mit dem Zug zurückfahren, auf der anderen Seite der Stadt gibt es eine Fähre nach Duisburg. Und grüß ihn von mir!»
    Der Diener verabschiedete sich.
    Hermann starrte in das Schaufenster und sah, wie sie den Schleier wieder herunterließ. Irrte er sich, oder schaute sie zu ihm herüber? Sie konnte ihn nicht erkannt haben, nicht in der Arbeitskleidung und mit all dem Schmutz im Gesicht. Das Gesicht, das er jeden Morgen über seiner Waschschüssel in dem kleinen Rasierspiegel sah, bevor er den Dreck der Schicht abwusch, hätte nicht einmal sein eigener Vater erkennen können. Und es war drei Jahre her, dass sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber er wollte nichts riskieren. Entschlossen ging er in den Bäckerladen. «Eine Scheibe Weißbrot», verlangte er.Durch das Fenster sah er, wie die Frau in der Gaststube verschwand.
    Hermann beeilte sich, nach Hause zu kommen. Es war also doch kein Zufall gewesen, dass Zita bei ihm aufgetaucht war. Doch zur Rede stellen konnte er sie nicht, denn sie war schon längst zur Arbeit aufgebrochen.
    Der süße Geschmack des Weißbrotes konnte ihn nicht trösten. Sie hatten ihn gefunden. Und so nah wie sie waren, würden sie seine Spur nie wieder verlieren.
    Er wusch sich und kroch unter die Bettdecke, die Zita sorgfältig hatte auslüften lassen. Aber trotz aller Erschöpfung von der harten Schicht dauerte es lange, bis er eingeschlafen war.
     
    An diesem Morgen kam Lina später als gewöhnlich zum Frühstück. Sie hatte große Mühe gehabt, die vielen Knoten in ihrem Haar wieder herauszubürsten, denn zum Zöpfeflechten war sie dann doch zu müde gewesen. Sie und Robert hatten sich besonders lang und zärtlich geliebt, und wie so oft nach einer solchen Nacht suchte sie am Morgen danach

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