Das dunkle Netz der Lügen
Akte in Roberts Schreibtisch im Rathaus. Schon die Tatsache, dass sie unverheiratet mit einem Mann zusammengelebt hatte, würde reichen, um einen Richter davon zu überzeugen, dass diese Mutter ihren Söhnen nur Schaden zufügte.
«Ik weet het niet, Lina. Georg hat mit de jongens geredet gestern Abend. Emil hat ihr vielleicht ein Brief geschrieben.»
«Und woher hatte er die Adresse?»
Aaltje zuckte ihre mächtigen Schultern. «Die Briefen haben wir immer verstopt …»
Lina schob Aaltje in den großen Salon. Die schluchzte immer noch. «Ik hou so van de jongens, als ob sie meine eigene kinderen sind …»
Lina drückte Aaltje sanft auf das Sofa und setzte sich zu ihr. «Schau, Aaltje, sie wird nichts erreichen, wenn sie herkommt. Niemand würde einer Frau wie ihr die Kinder überlassen.»
Aaltje nickte und schnäuzte sich in ein Spitzentaschentuch. «Ach, de jongens. Sie begreifen das doch nicht. Sie ist doch ihre Mutter.»
Lina nahm ihre Hand und drückte sie. «Da müsst ihr einfach hart bleiben. Wenn sie alt genug sind, werden sie es verstehen.»
«Emil ist alt genug.»
Der inzwischen achtzehnjährige Emil hatte ihnen mehr als einmal Kummer gemacht, indem er forderte, seine Mutter treffen oder ihr wenigstens schreiben zu dürfen. Er hatte nie geglaubt, was Georg ihnen hatte weismachen wollen, nämlichdass seine Mutter nichts mehr von ihm und seinem jüngeren Bruder Josef wissen wollte.
«Robert und ich stehen euch bei. Hast du eine Ahnung, wann sie hier sein wird?»
«Die Brief kommt aus Frankfurt. Es ist nicht weit mit die Zug.» Aaltje schluchzte zwar nicht mehr, aber ihre Hände zitterten.
«Aaltje, wir werden kaum verhindern können, dass sie herkommt und die Jungen sehen will. Wie du selbst sagst: Sie ist ihre Mutter. Aber niemand nimmt euch die Jungen weg.» Sie stand auf. «Schick sofort jemanden zu mir und auch zu Robert aufs Rathaus, wenn sie auftaucht», schärfte sie Aaltje ein. «Und vielleicht wäre es besser, wenn Georg in den nächsten Tagen hier zu Hause arbeitet.»
«Ja. Er wollte am Mittag zurückkommen und dann bleiben.» Auch Aaltje erhob sich, und dann versank Lina in einer mächtigen Umarmung.
«Es wird alles wieder gut, Aaltje, glaub mir.» Lina griff sich im Flur Stock und Mantel.
Vor der Tür draußen atmete sie tief durch. Sie hatte das Gefühl, ein Sturm wäre im Anzug auf die Familie Kaufmeister. Wir werden nicht verhindern können, dass sie kommt, wiederholte sie in Gedanken, was sie Aaltje gesagt hatte. Dann runzelte sie die Stirn. Vielleicht konnten sie es doch verhindern.
Lina hatte eigentlich vorgehabt, direkt zum Rathaus zu gehen, um mit Robert zu sprechen, als Finchen ihr über den Weg lief. An jeder Hand hatte sie ein Kind – links ihren ältesten Sohn Oskar und rechts Carolinchen, die jüngste Tochter der Kaufmeisters. Die Kleine war allerdings kaum zu erkennen, denn sie war fast vollständig von Schlamm bedeckt.
«Was ist passiert?», fragte Lina erstaunt.
«Die beiden sind nach der Schule nicht nach Hause gekommen,sondern zur Woy gelaufen, weil ihnen irgendein Bengel eingeredet hat, dort gäbe es schon Kaulquappen! Im März, bei dieser Kälte!» Man sah Finchen an, dass sie ihren Oskar am liebsten an den Ohren heimgeschleift hätte.
«Ich habe aber eine Kaulquappe gesehen, ganz bestimmt!», erklärte Carolinchen. Ihr Kleid war nass, dreckig und völlig ruiniert.
«Carolinchen ist in den Tümpel gefallen», erklärte Oskar. «Ich habe sie herausgezogen.»
«Ihr beiden habt an der Woy überhaupt nichts zu suchen. Ich habe dir zigmal gesagt, dass du von der Schule ohne Umwege gleich nach Hause kommen sollst», schimpfte Finchen. «Was glaubst du, was für Sorgen ich mir gemacht habe, als du nicht zum Mittagessen da warst.»
Lina runzelte die Stirn. So spät war es schon? «Finchen, bring Carolinchen nach Hause.»
«Ich dachte, ich wasche ihr erst einmal den Dreck aus den Haaren und ziehe ihr etwas Trockenes an. Und vielleicht ist es besser, wenn Sie selbst sie heimbringen, dann fallen die Prügel nicht ganz so hart aus», sagte Finchen.
«Und was ist mit meinen Prügeln?», wollte Oskar wissen.
«Du kriegst, was du verdienst, mein Junge. Dein Vater wird dir schon ordentlich den Hintern versohlen.»
«Gut», sagte Lina. «Die beiden müssen auch schleunigst aus den nassen Sachen heraus. Und dann bringe ich sie heim. Aaltje wird bestimmt schon in heller Aufregung sein.»
Antonie und Finchen stellten die Kleinen nacheinander in den großen
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