Das dunkle Netz der Lügen
hölzernen Spülbottich, den sie halb mit warmem Wasser gefüllt hatten. Beiden Kindern war inzwischen richtig kalt, Carolinchen klapperte sogar mit den Zähnen. Lina suchte derweil im Stoffladen bei der Fabrikware ein Mädchenkleid.
«Das ist aber hässlich!» Carolinchen rümpfte die Nase. Eswar ein graues Kleidchen aus einem kratzigen Stoff, und es war ihr auch etwas zu groß, aber Lina hatte kein anderes finden können.
«Wenn du dir dein schönes Kleid an der Woy verhunzt, kannst du nicht erwarten, dass du wie eine Prinzessin aussiehst», sagte Lina. Sie musste sich zusammenreißen, nicht zu schmunzeln, denn die Kleine erinnerte sie sehr an sie selbst, bevor sie damals krank wurde. Lina und ihre Schwester Mina waren auch auf jeden Baum geklettert, hatten in jedem Loch gestochert und mit den Altstadtjungen bei den Stadtgärten Feuerchen gemacht. Inzwischen konnte man Carolinchens schöne dunkle Locken wiedererkennen und auch ihr hübsches Gesicht. Lina band ihr eine Haube um die noch feuchten Haare.
«So, jetzt komm.» Der Hausknecht Otto hatte die Schuhe der Kleinen notdürftig gesäubert, aber natürlich waren sie immer noch ganz nass.
«Ihhh», rief Carolinchen.
«Bis zu Hause wird es wohl gehen», sagte Lina und nahm sie jetzt bei der Hand. «Eigentlich solltest du drei Schritte vor mir hergehen, damit ich so tun kann, als gehörten wir nicht zusammen», sagte sie, aber sie lachte.
Ihr Bruder würde nicht lachen. Während Aaltje schon oft sehr nachsichtig war, erzog Georg seine Kinder gerecht und konsequent. Manchmal fand Lina ihn zu hart, aber eigentlich gediehen Karl und Elisabeth und auch die Neffen Josef und Emil vorzüglich.
In der Karlstraße befand sich das ganze Haus in Aufruhr, weil Carolinchen nicht von der Schule heimgekommen war. Das Hausmädchen Lotte hatte zum Lehrer laufen müssen und zu Carolinchens Schulfreundinnen, war aber ohne jede Nachricht von dem Kind zurückgekommen.
Aaltje saß weinend im Salon, und inzwischen war auch Georg wie angekündigt nach Hause gekommen – eigentlich um seiner Frau wegen des Briefes von Mina beizustehen –, aber das war jetzt fast vergessen, weil die Jüngste, sein erklärter Liebling, verschwunden war.
Alle waren erleichtert, als Lina mit der Kleinen eintraf, in einem Korb das schlammbedeckte teure Kleidchen und die ehemals weiße Schürze.
«Sie war mit Oskar an der Woy und hat nach Kaulquappen gesucht», erklärte Lina.
«Im März?», fragte Georg. Er sah seine Tochter an.
«Der Heini Kötter hat zu Oskar gesagt, er hätte schon welche geholt.» Carolinchen versteckte sich fast hinter ihrer Patentante Lina.
Georg machte ein strenges Gesicht, was ihm nach Linas Meinung nicht schwerfiel, da er ohnehin wenig Humor hatte. «Haben wir nicht neulich darüber gesprochen, dass du nach der Schule gleich nach Hause kommen sollst?»
Die Kleine nickte.
«Und? Hast du das heute gemacht?»
Sie schüttelte langsam den Kopf.
«Bist du also gehorsam gewesen?»
Jetzt sah sie auf den Boden, als sie den Kopf heftig schüttelte.
«Geh in mein Büro und warte da auf mich.»
Gehorsam ging Carolinchen.
«Georg, es ist toch nicht viel passiert», sagte Aaltje. «Das Wichtigste ist, dass sie zu Haus ist.»
«Wenn ich sie nicht bestrafe, wird sie nie gehorchen», sagte Georg. Dann sah er Lina an. «Ich werde ihr den Umgang mit Oskar verbieten, wenn Finchen ihn nicht in den Griff bekommt. Das ist ja nicht das erste Mal, dass er Carolinchen in Schwierigkeiten bringt.»
«So wie ich deine Tochter kenne, kann sie sich auch ganz gut allein in Schwierigkeiten bringen», konterte Lina.
«Ich weiß. Und du findest das wahrscheinlich auch noch komisch. Aber du hast selbst keine Kinder, Lina. Kinder brauchen eine harte Hand, damit sie später im Leben bestehen können.» Er folgte seiner Tochter in sein Büro.
«Aber doch nicht zu hart!», rief Lina ihm hinterher.
«Sei mal nicht bang», sagte Aaltje. «Sie ist toch Papas meisje. Das tut ihm mehr pein dan ihr.»
Kurz darauf hörten sie Geschrei aus dem Büro, und dann kam Carolinchen zurück, um sich von ihrer Mama trösten zu lassen.
«Wage es nicht, ihr etwas Süßes zum Trost zu geben!», herrschte Georg, der hinterhergekommen war, seine Frau an.
Aber Lina sah, dass in seinen Augen Tränen schimmerten.
«Komm, wir ziehen dir eine schöne Kleid an», sagte Aaltje und ließ Lina mit ihrem Bruder allein.
«Wie gehen die Geschäfte?», fragte er plötzlich.
«Ganz gut. Es kommen schon Aufträge für die
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