Das dunkle Netz der Lügen
Frühjahrsbälle, aber das meiste wird sicher für den Maiball geordert.»
«Und bist du flüssig genug, um die teuren Stoffe zu kaufen?»
Im letzten Jahr um diese Zeit hatte Lina ihn um einen Vorschuss auf ihre Rentenzahlung aus dem Vermögen ihrer Eltern gebeten, um die kostbaren Seiden- und Organzastoffe kaufen zu können. Er hatte daraufhin verlangt, ihre Bücher zu sehen, und ihr das Geld erst gegeben, nachdem er die Geschäftsführung als gut befunden hatte. Lina hatte sich fürchterlich darüber geärgert und sich geschworen, ihren Bruder nie wieder um Hilfe zu bitten. Aber in diesen Zeiten war sie vielleicht doch einmal darauf angewiesen. Deshalb blieb sie versöhnlich.
«Ich denke, es wird gehen. Aber falls nicht – würdest dumir aushelfen? Die Rente habe ich ja leider letztes Jahr schon ausgegeben.»
«Wir verdienen zwar auch noch nicht viel, aber für ein paar Anzahlungen bei den Stoffhändlern würde es reichen.»
«Gut zu wissen, Georg», sagte Lina. «Ich denke, es geht in diesem Jahr auch so, aber es ist beruhigend.» Sie sah ihn an und lächelte. Das Verhältnis zu ihrem Bruder war nicht immer so gut gewesen.
«Carolinchen wird dir verzeihen», sagte sie ihm. «Heute Abend sitzt sie sicher wieder auf deinem Schoß. Sie ist doch Papas Mädchen.»
«Ja, das ist sie. Mein kleiner Sonnenschein. Aber manchmal ist sie schlimmer als ein Sack Flöhe.»
Lina ging von den Kaufmeisters auf direktem Weg zum Rathaus. Dort hatte Inspektor Ebel gerade die schlechte Nachricht überbracht, dass Walther Jansen in der «Laterne» herausposaunt hatte, dass seine Frau noch lebte und nach Duisburg geschafft worden war. Robert hatte unverzüglich den jungen Kramer zur dortigen Staatsanwaltschaft geschickt. Er hoffte, dass Staatsanwalt Loerbroks Annas Bewachung anordnen würde. Obwohl der Überfall ein Kapitalverbrechen war, hatte die Staatsanwaltschaft in Wesel den Fall den Duisburgern überlassen.
«Ich fürchte, mehr können wir nicht tun», sagte Robert gerade, als Lina hereinkam.
«Es tut mir leid, wenn ich störe, aber es ist wichtig.» Sie sah den Bürgermeister an. «William sollte auch hören, was ich zu sagen habe.»
«Wir sind ohnehin hier fertig», sagte der.
Lina wartete, bis sich Recke, Ebel und der Meidericher Dorfsergeant Thade verabschiedet hatten, und berichtete dann von ihrem Besuch bei Aaltje und Minas Brief. «Ich habe sieberuhigt, dass kaum ein Richter ihr die Jungen zusprechen würde, aber sie hat recht, wenn sie sich um den Seelenfrieden der Kinder sorgt. Sie und Georg haben viel Mühe darauf verwandt, alle Annäherungsversuche Minas von ihnen fernzuhalten, keine Briefe, keine Besuche. Sie haben die Jungen in dem Glauben gelassen, sie seien Mina gleichgültig. Wenn sie nun begreifen, dass ihre Mutter sich um sie bemüht, würde das ihr Vertrauen in Georg und Aaltje schwer erschüttern.»
Weinhagen war aufgestanden und ging auf und ab. «Ich will diese Person hier nicht haben, nach allem, was damals passiert ist.»
«Sprechen wir ein Platzverbot aus», schlug Robert vor. «Aber auch wenn wir sie bei den Kontrollen abweisen, sie kennt die Wege, über die sie in die Stadt kommen kann.»
Lina seufzte. «Gibt es keinen Grund, sie festzunehmen und weit fortzubringen?» Einen Moment dachte sie an ihre Kindheit und die tiefe Vertrautheit mit ihrer Schwester, die bei Zwillingen gewöhnlich vorhanden ist. Sie hatten einander einmal besser gekannt als jeden anderen Menschen auf der Welt. Aber schon Linas Krankheit, das Gebrechen, das sie unterscheidbar gemacht hatte, schien den ersten Keil zwischen die beiden getrieben zu haben. Mina hatte Lina die Mutter geneidet, die über ein Jahr mit der kranken Tochter in Italien geblieben war, damit sie sich dort erholte, Lina sehnte sich nach der Zuneigung des Vaters, die Mina im Übermaß bekommen hatte. Doch zerbrochen war das innige Verhältnis erst, als Mina ihre Schwester dem Verbrecher Reppenhagen ausgeliefert hatte, der sie beinah getötet hätte.
Ihre Zwillingsschwester war ihr fremd geworden, verhasst durch die Dinge, die sie getan hatte, nicht zuletzt ihre Kinder im Stich zu lassen. «Du hast doch eine Akte über sie, Robert.»
«Ja, die habe ich.» Robert öffnete die oberste Schubladeseines Schreibtisches und zog den Aktendeckel hervor. «Daraus ist zu ersehen, wo sie und Reppenhagen sich aufgehalten haben in den beiden Jahren nach den Ereignissen hier. Aber dann hat er sich mit dem Orden überworfen und ist gemeinsam mit Mina
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