Das dunkle Netz der Lügen
nützt alles auch nichts mehr. Das Unheil ist angerichtet. Die Jungen werden nicht verstehen, wenn wir gegen sie vorgehen.» Sie seufzte. «Ich hätte nie gedacht, dass sich einmal ein solcher Graben zwischen uns auftun würde.»
Robert erhob sich und ging zum Schrank, wo Lina eine Flasche Cognac aufbewahrte. Er goss sich und seiner Frau ein Glas ein und reichte es ihr. «Es ist sehr lange her, dass ihr beide ein enges Verhältnis hattet. Sie hat so früh geheiratet und ist fortgegangen, Lina. Als sie damals aus Brüssel hierherkam, hat jeder erwartet, dass die alte Mina zurück ist. Aber ich glaube, sie hat sich nicht erst durch Reppenhagen so verändert.»
Lina nickte. «Du hast wahrscheinlich recht. Fast ein Jahr lang hatte sie sich ohne Justus in Brüssel durchgeschlagen, und schon vorher war das Leben sicher nicht leicht gewesen, als sie auf der Flucht vor der Königlichen Polizei waren.» Als sie hier in Ruhrort nicht mehr um ihre Existenz kämpfen musste, hatte Mina plötzlich nur noch sich selbst im Kopf gehabt, die Vergnügungen, die sie all die Jahre entbehren musste. Lina schaute nachdenklich in ihr Glas. «Sie hätte die Jungen so oder so hiergelassen, selbst wenn all das damals nicht passiert wäre.Sie wollte mit Reppenhagen fortgehen. Ich frage mich nur, warum ihr Emil und Josef jetzt so wichtig sind.»
«Das wird sie uns nicht auf die Nase binden. Aber sie weiß, was sie Georg und Aaltje damit antut, wenn man ihnen die Jungen wegnimmt.»
Lina dachte an die vielen Fehl- und Totgeburten der armen Aaltje. Sie und Georg hatten sich viele Kinder gewünscht, aber nur drei waren durchgekommen. Dass Josef und Emil bei ihnen aufwuchsen, hatten sie als Glücksfall betrachtet.
«Georg wird sich mit einem Advokaten beraten müssen.» Robert setzte sich wieder in seinen Lieblingssessel. «Aber mit den Akten der Königlichen Polizei dürfte es Mina schwerfallen, vor einem Richter die fürsorgliche Mutter zu spielen.»
Lina nickte. «Trotzdem wird es nichts daran ändern, dass die Jungen es Georg und Aaltje übelnehmen werden. Robert, Joseph kommt doch mit vielem zu dir, glaubst du, du kannst es ihm erklären?»
«Joseph … ja, ich denke schon. Er ist erst fünfzehn und nicht so verstockt wie sein Bruder. Emil ist es, der mir Sorgen macht.» Er sah Lina an. «Du vermutest doch auch, dass er seiner Mutter vom Tod des Vaters geschrieben hat?»
«Ja. Ich wüsste nicht, wer es sonst gewesen sein sollte.» Sie nippte an dem Cognac, der angenehm weich die Kehle herunterfloss.
«Ich glaube, am schlimmsten trifft es Aaltje.» Robert stellte sein Glas auf den Tisch. «Sie kann sich gar nicht vorstellen, dass die Jungen nicht ihre Kinder sind.»
Der Satz klang in Lina nach, und plötzlich erstarrte sie. Mina könnte noch weit mehr Unheil anrichten – und das beträfe nicht allein ihre Söhne. Sie fragte sich, ob Robert auch schon daran gedacht hatte und es nur nicht aussprach. Die Wolken, die über der Familie aufgezogen waren, wurden noch drohender und dunkler.
4. K apitel
In den nächsten Wochen herrschte gespannte Ruhe bei den Familien Kaufmeister, Messmer und Borghoff. Man erwartete jeden Tag ein Schreiben vom Gericht, doch nichts geschah. Besonders Emil schien darüber sehr enttäuscht zu sein. Georg hatte für ihn einen Hauslehrer eingestellt, der ihn nach dem Besuch der höheren Schule in Ruhrort nun auf das Abitur vorbereitete, damit er später ein Jurastudium beginnen konnte. Er sollte der erste Rechtsanwalt in der Firma Kaufmeister und Messmer werden, das hatte Georg schon vor einem Jahr entschieden.
Emil war schwierig geworden, seit er ins Flegelalter gekommen war, und Georg, der mit Strenge versuchte, den Jungen fügsam zu machen, fand einfach keinen Zugang zu ihm. Seit dem Auftritt von Mina war es schlimmer denn je geworden. Oft schwänzte Emil einfach den Unterricht und trieb sich in Ruhrort herum, was den geizigen Georg, der viel Geld für den Hauslehrer ausgab, fast zur Weißglut trieb. Und mit jeder von Georgs Bestrafungen schien Emil sich mehr von der Familie zu entfernen. Aber was sollte Georg tun? Die Provokationen des Jungen waren einfach zu schwer zu ertragen.
Josef dagegen, obwohl enttäuscht darüber, dass niemand sich mit seiner Mutter versöhnen wollte, ging brav zur Schule und benahm sich auch sonst recht normal. Robert hatte ein langes Gespräch mit ihm geführt, immer darauf bedacht, dieWahrheit zu sagen, aber die vielen schlimmen Einzelheiten von ihm fernzuhalten. Er hoffte, zu
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