Das dunkle Netz der Lügen
dem Jungen durchgedrungen zu sein.
Anna Jansen lag nach wie vor im Hospital der Duisburger Diakonie. Ihre Genesung schritt nur sehr langsam voran. Inzwischen hatte man ihr gesagt, dass ihr Kind tot war, aber noch immer erinnerte sie sich an nichts, was Robert und auch Lina, die er in das schreckliche Unglück eingeweiht hatte, als einen Segen betrachteten – auch wenn es bedeutete, dass der Täter möglicherweise nie gefasst wurde.
Als im Geschäft ein paar Tage lang weniger zu tun war, beschloss Lina, nach Duisburg zu fahren, um ihre Näherin zu besuchen. Begleitet wurde sie von Peter, dem Stallknecht der Kaufmeisters, der es übernahm, den bescheidenen offenen Einspänner, den Lina und Robert sich angeschafft hatten, zu fahren. Der Wagen war bei den Kaufmeisters untergestellt, und auch die ältere Stute der Borghoffs stand im Stall des Bruders.
«Das arme Mädchen weigert sich, zurück nach Hause zu gehen», sagte die Schwester, die Lina von der Kutsche abgeholt hatte und nun zu Anna brachte. «Wir haben alle großes Mitleid mit ihr, weil sie ihr Kind verloren hat, und da zurzeit das kleine Sterbezimmer frei ist, haben wir ihr erlaubt, dort zu bleiben. Zumindest für ein paar Tage. Ihr Bett im großem Saal ist inzwischen schon neu belegt worden.»
Etwa auf der Hälfte des Flurs kam ihnen eine Patientin entgegen. Sie grinste völlig grundlos, und Lina konnte sehen, dass sie kaum noch Zähne im Mund hatte. Noch bevor die Schwester etwas sagen konnte, hob die Alte ihr Nachthemd hoch und lachte wie ein kleines Kind, dem ein besonders guter Streich gelungen war.
«Gertrud!», rief die Schwester und beeilte sich, das Nachthemd wieder herunterzuziehen. «Mach, dass du wieder in deinBett kommst!» Sie öffnete eine Tür und schob die Frau hinein.
«Ihre Familie hat sie zu uns gebracht, aber eigentlich gehört sie ins Irrenhaus», seufzte die Schwester.
Sie wollte gerade die Tür zu einem Zimmer ganz am Ende des Flurs aufziehen, als plötzlich von innen geöffnet wurde. Der Mann, der aus der Tür trat, hielt überrascht inne, dann stürmte er hinaus und riss dabei die Schwester zu Boden. Lina, die dicht hinter ihr stand, konnte gerade noch zurückweichen.
«Haben Sie sich etwas getan?», fragte Lina und streckte ihr die Hand hin, während sie dem Davoneilenden nachsah.
Die Schwester schüttelte den Kopf. «Nein, es ist alles in Ordnung», sagte sie, «aber was hatte dieser Mann hier verloren?» Dann fiel Linas Blick in das kleine Zimmer.
Anna lag auf dem Bett, in ihrer Brust steckte ein Messer. Ein Blutfleck breitete sich langsam auf dem Nachthemd aus.
Die Schwester, die sich gerade noch Röcke und Haube nach dem Sturz zurechtgezupft hatte, rief laut um Hilfe. Lina war schon an Annas Bett. Die junge Frau rang nach Luft. Sie sagte etwas, aber Lina konnte sie nicht verstehen. Sie beugte sich zu ihr hinunter, hielt das Ohr dicht an Annas Mund, aber auch jetzt konnte sie es kaum verstehen. Hatte sie «Walther» gesagt?
Lina überlegte. Der Mann, der hinausgelaufen war, sah Annas Mann zwar ein wenig ähnlich, aber es war ganz klar jemand anders gewesen. Sie hielt Annas Hand. «Walther», flüsterte sie noch einmal. Und noch bevor der Arzt, den man gerufen hatte, im Zimmer war, spürte Lina, wie die Hand schlaff wurde. Der Arzt fühlte den Puls und schüttelte dann den Kopf. «Sie ist tot.»
Robert war vom Staatsanwalt nach Duisburg gerufen worden; obwohl der Mord sich im Duisburger Hospital ereignet hatte, war es doch auch eine Ruhrorter Angelegenheit. StaatsanwaltLoersbroek arbeitete bereitwillig mit Robert zusammen, auch wenn das Verhältnis nicht ganz so gut war wie mit seinem Vorgänger Rocholl. Lina und die Schwester wurden ausführlich vernommen, von der Beschreibung des Mannes, der aus dem Krankenhaus geflohen war, wurde für die Ruhrorter Polizei eine Abschrift angefertigt.
Es war nicht schwierig gewesen, das Hospital unerkannt zu betreten, viele Angehörige gingen hier ein und aus, um ihre Kranken zu besuchen. Solange Anna noch sehr krank gewesen war, hatte die Polizei eine Wache abgestellt. Aber sie hatte ja eigentlich entlassen werden sollen, deshalb war der Polizeidiener abgezogen worden. Hier wie in Ruhrort waren die Ordnungskräfte knapp, und es gab genug zu tun. Natürlich bedauerte der Duisburger Polizeichef, dass er die Wache vernachlässigt hatte, aber es war ohnehin ein Entgegenkommen gewesen, die Kranke zu bewachen.
Der Staatsanwalt und die beiden Polizeichefs rätselten über Annas
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