Das Dunkle Netz Der Rache
phosphoreszierende Weiß erkennen, dort, wo der Damm überlief, und vor der Fabrik die langgestreckten niedrigen Büroräume. Russ fragte sich, wie viele von ihnen im Zeitalter des Auslagerns und der Entlassungen noch besetzt waren.
Noble parkte auf einem der reservierten Plätze vor den Büros. Die Scheinwerfer seines Streifenwagens beleuchteten einen apfelgrünen Prius. Russ stellte sich neben ihn und stieg aus.
Noble stieg ebenfalls aus. »Hey, Chief.«
»Hast du eine Taschenlampe?«
Noble reichte ihm seine MagLite. Russ leuchtete durch die Fenster. Das Licht erfasste eine Reisetasche, ein Paar Turnschuhe und den üblichen Müll, der sich in den Autos vielbeschäftigter Menschen ansammelt: CD-Hüllen, zerknüllte Fast-Food-Verpackungen, eine leere Sodaflasche.
»Kein Kleid.« Russ blickte zu Noble hinüber. »Sie wollte zu dem großen Rummel im neuen Hotel. Wo ist ihr Kleid?«
»In der Tasche?« Noble war Junggeselle, was gelegentlich dazu führte, dass er Frauen falsch einschätzte.
Russ schüttelte den Kopf. »Frauen knüllen lange Kleider nicht in kleine Taschen. Das ist wie bei Anzügen. Man muss sie aufhängen.«
Er kramte das Handy aus seiner Tasche und wählte die Auskunft, während er Noble die Taschenlampe zurückgab. »Millers Kill, New York«, meldete er sich. »Shaun Reid. Bitte verbinden Sie mich.«
Das Telefon klingelte einmal, zweimal, dreimal. Dann eine weibliche Stimme. »Hallo, hier bei Reid.«
»Hi. Könnte ich bitte mit Shaun sprechen?«
»Darf ich fragen, wer spricht?«
»Russ Van Alstyne. Von der Polizei Millers Kill.«
Sekundenlanges Schweigen. »Ist Jeremy etwas zugestoßen?«
Jeremy? Hieß Shauns Sohn so? »Nein, Ma’am. Nichts dergleichen.«
»Sammeln Sie Spenden?«
Russ spürte, wie seine Wut allmählich aufloderte, wie ein träger Motor an einem kalten Morgen. »Ma’am, es ist Polizisten verboten, um Geld zu betteln. Ich muss Shaun Reid in einer offiziellen Angelegenheit sprechen.«
»Schön.« Er konnte ihre unausgesprochene Erwiderung beinah hören: Kein Grund, gleich beleidigt zu sein. »Ich hole ihn.«
Er starrte auf das Heck des Hybridwagens, während er darauf wartete, dass Shaun ans Telefon kam. Das Auto war frisch und adrett und jung. Wie seine Besitzerin. Russ war zu fünfundneunzig Prozent sicher, dass Becky die Wahrheit gesagt hatte und Randy Schoof ihr Mann war. Aber Lyle hatte diese Geschichte über Shauns Verwicklung, und jetzt stand der Wagen der Castle vor dessen Büro. Zwei Berührungspunkte. Konnte Zufall sein, aber Russ hielt nichts von Zufällen.
»Russ? Hey, lange nicht gesehen. Wann war das, beim Rotariertreffen letztes Jahr?« Shaun klang aufgekratzt, als wäre von seinem alten Schulfreund zu hören der Höhepunkt seines Samstagabends.
»Ist das schon so lange her? Die Zeit vergeht wie im Flug.«
»Das tut sie ganz sicher. Wie geht es dir? Und wie geht’s deiner schönen Frau?«
»Linda geht’s prima. Hör mal, ich habe ein kleines Problem hier draußen vor deiner Fabrik, und ich frage mich, ob du nicht rüberkommen und mit mir zusammen einen Blick darauf werfen kannst.«
Die Pause am anderen Ende dehnte sich so endlos, dass Russ das Handy vom Ohr nahm und nachsah, ob er noch eine Verbindung hatte. »Shaun?«, fragte er.
»Verzeihung. Ein Problem vor der Fabrik? Was ist denn?«
»Ich würde dir das lieber erklären, wenn du hier bist.«
»Ich muss heute Abend um neunzehn Uhr dreißig im Algonquin Waters sein. Courtney und ich gehen zu einer Feier dort. Geschäfte mit ein paar Burschen aus Übersee. Das darf ich wirklich nicht verpassen.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich nicht lange aufhalten. Linda und ich gehen auch hin, und sie reißt mir den Kopf ab, wenn ich nicht pünktlich bin.«
»Ach. Ja? Gut, in Ordnung. Ich komme, so schnell ich kann.«
»Ich warte hier auf dem Parkplatz.« Er verabschiedete sich und schaltete das Handy aus, während er sich fragte, ob vielleicht, nur vielleicht, doch ein Fünkchen Wahrheit an Lyles Gerüchten war.
19:00 Uhr
Seine Handflächen waren so feucht, dass das Lenkrad durch seine Finger glitt, als er es einschlug. Shaun wollte sie schon an den Oberschenkeln abwischen, beherrschte sich jedoch im letzten Moment, ehe er Schweißflecken auf seiner Smokinghose hinterlassen konnte. Dann bellte er ein unbehagliches Lachen. In wenigen Minuten mochte er der am besten gekleidete Insasse des Gefängnisses von Washington County sein.
Sein Blick fiel auf den Tacho, und er drosselte die
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