Das dunkle Paradies
allen Personen besorgt, die eine Woche vor und nach der Tat von Boston nach Denver geflogen sind. Sehen Sie mal nach, ob Ihnen ein Name bekannt vorkommt. Möglicherweise hat unser Zeuge sich das ausgedacht. Oder der Killer ist von New York aus geflogen oder in einem 58er Rambler angereist. Aber fürs Erste ist es logisch, mit Boston-Denver anzufangen.«
Dann folgte eine dreispaltige Namensliste über achtzehn Seiten. Auf Seite zwölf stand Lou Burkes Name. Jesse starrte ihn eine Weile lang an, dann schob er die Blätter wieder übereinander, heftete sie zusammen mit Bucks Brief in einem Aktenordner ab und schloss den Ordner im Aktenschrank ein. Er holte Lou Burkes Personalakte hervor, legte sie auf seinen Schreibtisch und schlug sie auf. Lou war zwanzig Jahre bei der Navy gewesen, bevor er zur Polizei gekommen war. Jesse studierte die Aufzählung von Lous militärischen Spezialkenntnissen, bis er die eine fand, an die er sich noch erinnert hatte:
1970–1972: Unterwasser-Sprengstoffexperte
Jesse trommelte sachte mit den Fingerkuppen auf die Schreibtischplatte, während er die Seite las.
1970–1972: Unterwasser-Sprengstoffexperte
Die Akte auf dem Schoß drehte er den Bürostuhl so, dass er aus dem Fenster sehen konnte, über die Einfahrt, in der die Feuerwehrautos parkten, hinweg auf die ganze Pracht des Herbstes von Massachusetts. Jesse war nie ein Naturfreak gewesen und er hätte sich auch nicht in einen Bus gesetzt, um irgendwohin zu fahren, wo man schöne Pflanzen sehen konnte. Aber da er nun mal hier war, erfreute er sich an der Aussicht. So etwas gab es nicht in L. A. Eine ganze Weile betrachtete er die leuchtenden Blätter, während Lou Burkes Personalakte verkehrt herum auf seinem Schoß lag.
Er saß immer noch da, als Molly Crane vom Empfangspult hereinkam, in der Tür stehenblieb und sich gegen den Rahmen lehnte. Sie tat das sehr oft, kam nicht richtig rein, blieb nicht richtig draußen, sondern lehnte sich einfach gegen den Türrahmen.
»Denken Sie nach?«, fragte sie. »Oder träumen Sie nur vor sich hin?«
»Ich seh mir die Herbstbäume an«, sagte Jesse.
»Ich hab gerade Pause«, sagte Molly.
Jesse nickte.
»Gehen Sie heute Abend zum Ball im Jachtclub?«, fragte sie.
»Ja. Und Sie?«
Molly lachte.
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich bin bloß eine einfache Angestellte.«
»Sie sind genauso eine Polizistin wie alle anderen.«
»Ja, klar, dann ist es natürlich etwas anderes. Wie viele andere Beamte werden wohl dort sein?«
»Waren Sie schon mal da?«
»Ich bin noch nie im Jachtclub gewesen, nur einmal, als eine Frau total betrunken angefangen hat, sich vor allen Gästen auszuziehen. Ich musste hin und sie fortschaffen.«
»Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung?«
»Ja, so lautete dann die Anklage. War eine ziemlich hübsche Frau«, sagte Molly. »Als ich sie endlich in die Zelle bugsierte, hatte sie keinen Faden mehr am Leib. Ich gab ihr meinen Mantel, aber sie wollte ihn nicht anziehen. Wiederholte immer nur, sie sei frei und habe die Absicht, ein freies Leben zu führen, oder so was in der Art. Sie war ziemlich hinüber. Meine Kollegen haben sich richtig Sorgen gemacht und es sich nicht nehmen lassen, regelmäßig zu überprüfen, ob sie sich auch nichts antut, einen Fluchtversuch unternimmt oder so.«
Jesse grinste.
»Lebt sie immer noch hier?«, fragte er.
»Ja, klar. Sie ist die Direktorin der kleinen Theatergruppe, der Elternvereinigung, des Kunstvereins und so weiter.«
»Haben Sie sich mal mit ihr unterhalten?«
»Sie tut so, als würde sie mich nicht kennen.«
»Vielleicht erinnert sie sich nicht. Mit Betrunkenen ist das manchmal so.«
»Ich bin Irin«, sagte Molly. »Ich kenn mich mit Betrunkenen aus.«
»Trinkt sie immer noch viel?«
»Ich glaube schon. Ich verkehre ja nicht in ihren Kreisen, aber jedenfalls hat sie seitdem nichts mehr mit der Polizei zu tun gehabt.«
»In dieser Stadt bleiben alle Gruppen wohl gerne unter sich.«
»Na klar, hier gibt es eine Menge Vorurteile. Aber die WASPs und die reichen Juden kommen komischerweise prima miteinander aus. Nur will niemand von denen was mit der arbeitenden Bevölkerung zu tun haben.«
»Vielleicht verallgemeinern Sie jetzt ein bisschen«, sagte Jesse.
»Na klar, was immer das heißen soll, wahrscheinlich tu ich das. Verstehen Sie mich bloß nicht falsch. Ich träume nicht davon, in den Jachtclub zu gehen. Ich frag mich bloß, wie’s Ihnen dort gefallen wird.«
»Vielleicht lässt es mich
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