Das dunkle Paradies
geschlagen. Sie taumelt zurück und mein Arm brennt vor Schmerz.
»Ihr wisst nicht, was Ihr sagt«, sage ich mit zornesbebender Stimme.
»Wie kannst du es wagen?«, sagt sie und hält sich das Gesicht.
»Ihr wisst noch nicht, wie ich kämpfen kann«, sage ich trotzig. »Ich habe eine Brücke gesprengt und eine ganze Armee aufgehalten. Ich habe einem wahnsinnigen Mörder das Messer in den Hals gestoßen. Ich habe Menschenleben gerettet, während Ihr nur nachts herumlauft und Menschen in die Luft jagt.«
»Du dummes Kind …«
Ich gehe einen Schritt auf sie zu.
Sie weicht nicht zurück, aber sie sagt ihren Satz nicht zu Ende.
»Ich hasse Euch«, sage ich langsam. »Alles, was Ihr tut, bewirkt nur, dass der Bürgermeister umso schlimmer zurückschlägt.«
»Ich habe diesen Krieg nicht angefangen.«
»Aber Ihr liebt ihn!« Ich mache noch einen Schritt auf sie zu. »Ihr liebt alles an diesem Krieg. Die Bomben, den Kampf, die Befreiungsaktionen.«
Sie ist jetzt so wütend, dass ich es ihr sogar im Mondlicht ansehe.
Aber ich habe keine Angst vor ihr.
Und ich glaube, sie weiß es auch.
»Du willst die Welt in Schwarz und Weiß einteilen, mein Mädchen«, sagt sie. »Aber so ist die Welt nicht. Sie war nie so und sie wird nie so sein. Und vergiss eines nicht: Diesen Krieg führen wir gemeinsam.«
Ich beuge mich vor, bis dicht an ihr Gesicht. »Er muss gestürzt werden und deshalb helfe ich Euch. Aber wenn er gestürzt ist, was dann?« Ich stehe jetzt so dicht vor ihr, dass ich ihrem Atem spüren kann. »Müssen wir dann Euch als Nächste stürzen?«
Sie sagt kein Wort.
Aber sie weicht auch nicht vor mir zurück.
Ich mache auf dem Absatz kehrt und gehe weg.
»Er ist verloren, Viola!«, ruft Mistress Coyle mir nach.
Aber ich gehe einfach weiter.
»Ich muss in die Stadt zurück.«
»Jetzt gleich?«, fragt Wilf mit einem Blick zum Himmel. »Is gleich Morgen. Is nich sicher.«
»Es ist nie sicher«, antworte ich, »aber mir bleibt nichts anderes übrig.«
Er blinzelt, dann sucht er Zaumzeug und Geschirr zusammen und macht das Fuhrwerk fertig.
»Nein.« Ich halte ihn zurück. »Du musst mir zeigen, wie man damit umgeht. Ich kann dich nicht bitten, mich zu fahren und dein Leben aufs Spiel zu setzen.«
»Willste Todd suchen?«
Ich nicke.
»Werde dich fahren.«
»Wilf …«
»Is noch früh genug«, sagt er und führt die Ochsen rückwärts an die Deichsel. »Ich bring dich näher hin.«
Und ohne ein weiteres Wort schirrt er die Ochsen wieder vor seinen Wagen. Sie fragen Wilf? Wilf? , überrascht, dass sie schon so bald wieder gebraucht werden, denn eigentlich ist ihre Arbeit für diesen Tag getan.
Ich denke darüber nach, was Jane wohl dazu sagen würde. Ich denke daran, dass ich ihren Wilf in Gefahr bringe.
Aber ich sage nur: »Ich danke dir.«
»Ich komme mit.«
Ich drehe mich um. Lee steht da und reibt sich den Schlaf aus den Augen, aber er ist angekleidet und bereit zum Aufbruch.
»Weshalb schläfst du nicht?«, frage ich ihn. »Und nein, du kommst bestimmt nicht mit.«
»Doch, ich komme mit«, erwidert er. »Wer kann bei diesem Geschrei schon schlafen?«
»Es ist viel zu gefährlich«, protestiere ich. »Sie werden deinen Lärm hören.«
Er bewegt seine Lippen nicht, aber sein Lärm sagt zu mir: Dann sollen sie ihn doch hören.
»Lee …«
»Du willst ihn suchen, nicht wahr?«
Ich seufze missmutig und überlege, ob ich nicht das ganze Vorhaben einfach aufgeben sollte, um nicht noch jemanden in Gefahr zu bringen.
»Du willst zum Amt für Anhörung gehen«, sagt Lee mit gedämpfter Stimme.
Ich nicke.
Und dann verstehe ich.
Siobhan und seine Mutter sind vielleicht dort.
Ich nicke wieder, und diesmal weiß er, dass ich einverstanden bin.
Niemand versucht uns aufzuhalten, obwohl sicher jeder im Lager weiß, was wir vorhaben. Mistress Coyle hat bestimmt ihre Gründe dafür.
Wir reden nicht viel unterwegs. Ich höre Lees Lärm zu, er denkt an seine Familie, an den Bürgermeister, daran, was er mit ihm anstellen wird, falls er ihn in die Finger bekommt.
Er denkt an mich.
»Du solltest lieber sprechen«, sagt er. »Es ist unfein, so ungeniert zuzuhören.«
»Ich weiß.« Aber mein Mund ist ganz trocken, und ich glaube, ich habe nicht viel zu sagen.
Noch ehe wir die Stadt erreichen, ist die Sonne schon aufgegangen. Wilf treibt die Ochsen an, sie laufen, so schnell sie können, aber der Rückweg wird dennoch gefährlich werden, jetzt, da die Stadt erwacht ist. Wir gehen ein schrecklich
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