Das dunkle Paradies
hohes Risiko ein.
Aber Wilf fährt weiter.
Ich habe ihm erklärt, was ich sehen will, und er meint, den geeigneten Platz dafür zu kennen. Er hält den Wagen irgendwo mitten im Wald an und beschreibt uns den Weg.
»Müsst euch ducken«, mahnt er. »Die dürfen euch nicht sehen.«
»Das machen wir«, verspreche ich. »Warte nicht auf uns, falls wir in einer Stunde noch nicht zurück sind.«
Wilf schaut mich nur an. Wir alle wissen, dass er auf jeden Fall auf uns warten wird.
Lee und ich bahnen uns den Weg einen schroffen Hang hinauf, wir bleiben in der Deckung der Bäume, bis wir ganz oben sind. Dann wird uns klar, warum Wilf diesen Platz ausgesucht hat. Der Hügel ist in der Nähe der Kuppe, auf der früher der Sendeturm stand. Von hier aus können wir die Straße, die zum Amt für Anhörung führt, gut überblicken. Dieses Amt soll, wie wir gehört haben, ein Gefängnis oder eine Folterkammer oder irgendetwas in dieser Art sein.
Eigentlich möchte ich es gar nicht genau wissen.
Wir legen uns Seite an Seite auf den Bauch und lugen aus dem Gebüsch hervor.
»Halt die Ohren offen«, flüstert Lee. Als ob das nötig wäre.
Sobald die Sonne aufgegangen ist, fängt in New Prentisstown das Dröhnen an. Ich frage mich sogar, ob Lee seinen eigenen Lärm überhaupt unterdrücken muss. Wo man doch ohnehin im allgemeinen Lärm ertrinkt.
»›Ertrinken‹ ist das richtige Wort«, sagt Lee, als ich ihn danach frage. »Wenn man hineintaucht, ertrinkt man darin.«
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, damit aufzuwachsen«, sage ich.
»Nein«, erwidert er. »Nein, das kannst du sicher nicht.«
Aber er meint es nicht böse.
Ich kneife die Augen zusammen, als die Sonne heller wird. »Ich wünschte, ich hätte ein Fernglas.«
Lee greift in seine Tasche und zieht ein Fernglas heraus.
Ich schaue ihn an. »Du hast wohl die ganze Zeit darauf gewartet, dass ich das sage, damit du dann bei mir Eindruck schinden kannst.«
»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest«, sagt er lächelnd und setzt das Fernglas an die Augen.
»Komm schon.« Ich gebe ihm einen Schubs mit den Schultern. »Gib’s her.«
Er rutscht zur Seite, damit ich es ihm nicht wegnehmen kann. Ich fange an zu kichern, er auch. Ich packe ihn und will ihn auf den Boden drücken, während ich mit der anderen Hand nach dem Fernglas greife, aber er ist stärker als ich und hält es so weit weg, dass ich es nicht wegschnappen kann.
»Es macht mir nichts aus, wenn ich dir wehtue«, sage ich.
»Daran habe ich keinen Zweifel«, sagt er lachend und richtet das Fernglas wieder auf die Straße.
Plötzlich brandet sein Lärm auf, er ist so laut, dass ich schon Angst habe, jemand könnte uns hören.
»Was siehst du?«, frage ich. Ich habe aufgehört zu kichern.
Er reicht mir das Fernglas und deutet auf die Straße. »Dort«, sagt er, »dort kommen sie die Straße entlang.«
Aber ich sehe sie schon durchs Fernglas.
Zwei Reiter. Zwei Männer in funkelnden neuen Uniformen zu Pferd. Einer von ihnen spricht, gestikuliert dabei.
Er lacht. Und grinst.
Der andere schaut vor sich aufs Pferd, aber auch er reitet zur Arbeit.
Reitet, um im Amt für Anhörung zu arbeiten.
Mit einer Uniform, auf deren Schulterstück ein A funkelt.
Todd.
Mein Todd.
Er reitet neben Davy Prentiss her.
Er reitet zur Arbeit mit dem Mann, der auf mich geschossen hat.
31
Zahlen und Buchstaben
[TODD]
Die Tage vergehen. Und es wird von Tag zu Tag schlimmer.
»Alle?«, fragt Davy, und er kann sein Entsetzen nur schlecht in seinem Lärm verbergen. »Wirklich alle?«
»Das ist ein Vertrauensbeweis, Davy«, erklärt der Bürgermeister, der zusammen mit uns am Eingang zum Stall steht, während unsere Pferde für die tägliche Arbeit gesattelt werden. »Du und Todd, ihr beide habt so Großartiges geleistet, als ihr die weiblichen Gefangenen markiert habt, wen sonst sollte ich mit der Leitung betrauen, wenn es darum geht, das Programm auszuweiten?«
Ich sage nichts, erwidere nicht einmal Davys Blick. Das Lob seines Vaters irritiert ihn, man hört es in seinem rosafarbenen Lärm.
Aber ich höre auch, wie ihm der Befehl durch den Kopf schwirrt, dass wir alle Frauen markieren sollen.
Jede einzelne.
Den Frauen im Amt für Anhörung die Bänder anzulegen, war schlimmer gewesen, als wir es uns vorgestellt haben.
»Immer mehr von ihnen rennen weg«, sagt der Bürgermeister. »Sie schleichen sich mitten in der Nacht davon und laufen zu den Terroristen über.«
Davy sieht zu, wie Deadfall in
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