Das dunkle Paradies
schaue nur auf die ersten Worte, die meine Mutter geschrieben hat, mit ihrer eigenen Hand. Ich weiß, was sie bedeuten, aber ich versuche mir vorzustellen, wie die ganze Seite klingt.
Ma-in . Mein . Es heißt Mein . Ich hole tief Luft. Li… Lie-bst . Lie-bst . Das heißt liebster , ganz klar. Mein liebster . Und das letzte Wort heißt Sohn , das weiß ich, ich habe es ja heute deutlich genug gehört.
Ich muss an die Hand denken, die er mir entgegenstreckte.
Ich muss daran denken, wie ich sie ergriff.
Mein liebster Sohn.
»Ich habe dir angeboten, es dir vorzulesen«, sagt Bürgermeister Ledger und stöhnt über den Lärm, den ich beim Lesen mache.
Wütend drehe ich mich um. »Ich hab gesagt, du sollst die Klappe halten!«
Er hebt beschwichtigend die Hände. »Ist ja gut, ganz wie du willst.« Er setzt sich wieder hin und fügt dann spöttisch hinzu: »Herr Leutnant.«
Ich setze mich kerzengerade hin. »Was hast du gesagt?«
»Nichts.« Er weicht meinem Blick aus.
»Ich hab dir davon nichts erzählt«, sage ich. »Kein einziges Wort.«
»Ich habe es in deinem Lärm gehört.«
»Nein, das hast du nicht.« Ich stehe auf, denn ich weiß, ich habe Recht. Seit ich zum Abendessen hierhergekommen bin, habe ich an nichts anderes gedacht als an das Buch meiner Mutter. »Woher weißt du das?«
Er schaut mich an, aber es kommt kein Wort aus seinem Mund, und in seinem Lärm sucht er verzweifelt nach einer Antwort.
Und findet keine.
An der Tür macht es Tschack und Mr Collins tritt ein. »Da ist jemand, der dich sprechen will«, sagt er, dann hört er meinen Lärm. »Was ist denn hier los?«
»Ich erwarte niemanden«, sage ich schroff und lasse Bürgermeister Ledger dabei nicht aus den Augen.
»Es ist ein Mädchen«, sagt Mr Collins. »Es behauptet, Davy habe es geschickt.«
»Verdammt«, murmle ich. »Ich hab’s ihm doch gesagt.«
»Egal«, erwidert er. »Sie sagt, sie will nur mit dir reden.« Er kichert. »Ein hübsches, kleines Ding, keine Frage.«
Sein Tonfall gefällt mir nicht. »Lass sie in Frieden, egal wer sie ist. Das gehört sich nicht.«
»Dann solltest du besser schnell mit runterkommen.« Er lacht, als er die Tür hinter sich schließt.
Ich schaue Ledger an. »Und wir beide sind noch nicht fertig miteinander.«
»Ich habe es in deinem Lärm gelesen«, wiederholt er, aber ich bin schon zur Tür hinaus und schließe sie hinter mir ab. Tschack!
Ich stampfe die Treppen hinab und überlege, wie ich das Mädchen wegschicken kann, ohne dass Mr Collins es belästigt, wie ich ihm vielleicht einiges ersparen kann, und mein Lärm quillt über von Argwohn gegen Bürgermeister Ledger, und als ich endlich den Fuß der Treppe erreicht habe, ist mir einiges klar geworden.
Mr Collins wartet auf mich, er lehnt völlig entspannt mit gekreuzten Beinen an der Wand und lächelt. Mit dem Daumen weist er mir den Weg.
Ich schaue in die Richtung, in die er gezeigt hat.
Da steht sie.
34
Die letzte Möglichkeit
(VIOLA)
»Lass uns allein«, sagt Todd zu dem Mann, der mich eingelassen hat, sieht dabei aber immer nur mich an.
»Hab dir doch gesagt, dass es ein hübsches Ding ist«, gluckst der Mann und verschwindet in einem Nebenzimmer.
Todd steht da und starrt mich an. »Du bist es«, sagt er.
Aber er kommt nicht näher.
»Todd«, sage ich und mache einen Schritt auf ihn zu.
Und er macht einen Schritt zurück.
Ich bleibe stehen.
»Wer ist das?«, fragt er, als er Lee bemerkt, der hinter mir steht und sich redlich bemüht, wie ein richtiger Soldat auszusehen.
»Das ist Lee. Ein Freund. Er ist mit mir gekommen, um …«
»Was machst du hier?«
»Ich bin gekommen, um dich zu holen«, antworte ich.
Ich sehe, wie er schluckt. Ich sehe, wie sich sein Adamsapfel bewegt. »Viola«, sagt er schließlich. Und auch in seinem Lärm höre ich nichts anderes. Viola, Viola, Viola.
Er fasst sich an die Schläfen, rauft sich die Haare, die nun länger und struppiger sind als früher.
Er wirkt auch größer.
»Viola«, sagt er wieder.
»Ich bin es«, antworte ich und mache wieder einen Schritt auf ihn zu. Er weicht nicht zurück, also gehe ich weiter, durchquere die Eingangshalle, nicht schnell, sondern Schritt für Schritt.
Aber als ich bei ihm bin, weicht er wieder ein Stück zurück.
»Was ist, Todd?«, frage ich.
»Was machst du hier?«
»Ich bin gekommen, um dich zu holen.« Ich merke, wie mich der Mut verlässt. »Ich habe es dir doch versprochen.«
»Du hast gesagt, du würdest ohne mich nicht gehen«,
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