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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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unverhüllt, so als wollte er mich damit beeindrucken.
    »Das solltest du für dich behalten«, sage ich. »Man kann nie wissen, wer zuhört.« Ich gebe Angharrad die Zügel, und wir reiten auf und davon, zurück auf der Straße, auf der wir gekommen sind. Ivans Lärm folgt mir. Ich achte nicht darauf.
    Ich fühle nichts. Ich lasse nichts an mich heran.
    »Er hat ›Sohn‹ zu dir gesagt«, beginnt Davy und schaut nach vorne, wo die Sonne gerade hinter den Wasserfällen verschwindet. »Ich schätze, jetzt sind wir Brüder.«
    Ich antworte nicht.
    »Das sollten wir feiern«, spricht Davy weiter.
    »Wo?«, frage ich. »Und wie?«
    »Nun, wir sind doch jetzt Offiziere, Bruder. Und soweit ich weiß, stehen uns damit auch gewisse Vorrechte zu.« Er sieht mich von der Seite an, sein Lärm brodelt, er ist voll von Gedanken, die ich früher im alten Prentisstown gesehen habe.
    Bilder von unbekleideten Frauen.
    Ich runzle die Stirn und lasse ihn in meinem Lärm das Bild einer nackten Frau sehen, die ein Band am Arm trägt.
    »Na und?«, sagt Davy.
    »Du hast sie wohl nicht alle.«
    »Doch, Bruder, du redest nämlich mit Sergeant Prentiss. Jetzt geht’s mir erst so richtig gut.«
    Er lacht und lacht. Er ist so guter Laune, dass mein eigener Lärm davon angesteckt wird, ob ich will oder nicht.
    »Ach, komm schon, Leutnant Schweinebacke, oder hängst du immer noch an diesem Mädchen? Es hat dich schon vor Monaten sitzen lassen. Wir müssen eine andere Frau für dich finden.«
    »Halt die Klappe, Davy.«
    »Halt die Klappe, Sergeant Davy.« Und er fängt wieder an zu lachen. »Schön, schön, dann bleib du eben zu Hause und lies in deinem Buch.« Er unterbricht sich abrupt. »Oh Scheiße, tut mir leid, das habe ich nicht so gemeint. Ich hab einfach nicht mehr dran gedacht.«
    Und das Verrückte daran ist, er meint es offenbar ernst.
    Einen Augenblick lang herrscht eine Stille zwischen uns beiden, in der nur sein Lärm mit diesem einen geheimen Wunsch pulsiert. Denn da ist etwas, was er am liebsten ganz tief in seinem Lärm vergraben möchte …
    Und dann sagt er: »Hör mal …«, und ich weiß, was für ein Angebot er mir jetzt machen will, und ich glaube, ich kann es nicht ertragen, ich glaube, ich kann keine Minute lang weiterleben, wenn er es laut ausspricht. »Wenn du willst, kann ich es dir ja vorlesen.«
    »Nein, Davy«, erwidere ich schnell. »Nein, vielen Dank.«
    »Sicher?«
    »Absolut.«
    »Mein Angebot steht jedenfalls.« Sein Lärm wird wieder hell, er blüht auf, während er an seinen neuen Rang, an Frauen, an uns beide denkt, die wir nun Brüder sind. Und auf dem ganzen Weg zurück in die Stadt pfeift er fröhlich vor sich hin.
    Ich liege auf meinem Bett und drehe Bürgermeister Ledger den Rücken zu, der wie gewöhnlich sein Essen hinunterschlingt. Ich esse auch, aber ich habe daneben noch das Buch meiner Mutter, es liegt auf meiner Bettdecke, und ich betrachte es einfach.
    »Die Leute fragen sich, wann der große Angriff kommen wird«, sagt Bürgermeister Ledger.
    Ich streiche mit der Hand über den Bucheinband, so wie ich es jede Nacht mache, spüre das Leder, ertaste den Riss, den das Messer hinterlassen hat.
    »Die Leute meinen, dass er unmittelbar bevorstehe.«
    »Was du nicht sagst.« Ich schlage das Buch auf. Die zusammengefaltete Landkarte, die Ben gezeichnet hat, ist noch da, an derselben Stelle, an die ich sie gesteckt habe. Offenbar hat Davy sich die ganze Zeit über nie die Mühe gemacht, das Buch zu öffnen. Es riecht ein bisschen nach Stall, das fällt mir auf, jetzt, da ich weiß, wo er es aufbewahrt hat, aber es ist immer noch das Buch, immer noch ihr Buch.
    Das Buch meiner Mutter. Und darin ihre eigenen Worte.
    Schau her, was aus deinem Sohn geworden ist.
    Bürgermeister Ledger seufzt laut. »Sie werden hier angreifen, weißt du«, sagt er. »Wenn das passiert, musst du mich rauslassen.«
    »Kannst du nicht mal fünf Sekunden lang still sein?« Ich schlage die erste Seite auf, wo die ersten Zeilen stehen, die meine Mutter geschrieben hat, an dem Tag, an dem ich auf die Welt gekommen bin. Eine ganze Seite voller Worte, die ich schon einmal gehört habe.
    (Vorgelesen von …)
    »Kein Gewehr, nichts, mit dem ich mich verteidigen könnte«, redet Bürgermeister Ledger weiter, der inzwischen aufgestanden ist und wieder aus dem Fenster schaut. »Ich bin völlig wehrlos.«
    »Ich werde auf dich aufpassen«, verspreche ich. »Aber jetzt, zum Teufel, halt die Klappe.«
    Ich beachte ihn nicht weiter, ich

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