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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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die Heilerinnen Coyle, Waggoner und Nadari eilten von Krankenzimmer zu Krankenzimmer, gaben Anweisungen und retteten Leben. Ich kann mir kaum vorstellen, dass seitdem irgendjemand auch nur Zeit zum Schlafen hatte.
    Maddy und ich haben jetzt bestimmt keine Zeit, um auf einen günstigen Augenblick zu warten, wir haben nicht einmal Zeit, uns darüber Gedanken zu machen, weshalb der Bürgermeister immer noch nicht gekommen ist, um mich zu besuchen. Stattdessen laufe ich hin und her, stehe im Weg, packe an, wo immer ich kann, und versuche mir alles zu merken, was eine Gehilfin wissen muss.
    Wie sich zeigt, bin ich nicht zur Heilerin geboren.
    »Ich glaube nicht, dass ich das jemals begreifen werde«, seufze ich, als es mir wieder einmal nicht gelingt, Mrs Fox, einer netten, alten Patientin, den Blutdruck zu messen.
    »Sieht ganz so aus«, erwidert Corinne und blickt dabei auf die Uhr.
    »Nur Geduld, hübsche, junge Frau«, tröstet mich Mrs Fox. Ihr Gesicht wird noch runzeliger, wenn sie lächelt. »Gut Ding will Weile haben.«
    »Sie haben Recht, Mrs Fox«, sagt Corinne mit einem Blick zu mir. »Versuch’s noch mal.«
    Ich pumpe die Armmanschette auf, setze das Stethoskop an, bis ich höre, wie das Blut in Mrs Fox’ Adern wusch, wusch macht, und lese die Werte an der kleinen Anzeige ab. »Sechzig zu zwanzig?«, rate ich mit unsicherer Stimme.
    »Nun, lass uns das doch mal überprüfen«, sagt Corinne. »Mir scheint, Mrs Fox ist heute Morgen verstorben.«
    »Oh nein, meine Liebe«, versichert ihr Mrs Fox.
    »Dann ist ihr Blutdruck wahrscheinlich nicht sechzig zu zwanzig«, stellt Corinne lakonisch fest.
    »Ich mache das erst den dritten Tag«, verteidige ich mich.
    »Ich mache das schon seit sechs Jahren«, sagt Corinne. »Damals war ich viel jünger als du. Aber du, du kannst nicht mal mit einer Blutdruckmanschette umgehen, trotzdem bist du mir nichts dir nichts Gehilfin. Komisch, wie das Leben so spielt, was?«
    »Du machst das gut, meine Liebe«, tröstet mich Mrs Fox.
    »Nein, das macht sie nicht, Mrs Fox«, sagt Corinne. »Es tut mir leid, wenn ich widersprechen muss, aber es gibt einige unter uns, die das Heilen als eine heilige Pflicht betrachten.«
    »Ich betrachte es als eine heilige Pflicht«, erwidere ich, ohne nachzudenken.
    Das ist ein Fehler.
    »Heilen ist nicht irgendein Zeitvertreib, Mädchen«, antwortet Corinne, und so, wie sie »Mädchen« sagt, klingt es wie das schlimmste Schimpfwort. »Das Wichtigste im Leben ist, Leben zu bewahren. Wir sind die Werkzeuge Gottes auf Erden. Wir sind das Gegenteil von deinem Freund, dem Tyrannen.«
    »Er ist nicht mein …«
    »Es zuzulassen, dass jemand einen anderen leiden lässt, ist die größte Sünde, die es gibt.«
    »Corinne …«
    »Du verstehst gar nichts«, zischt sie wütend. »Hör auf, so zu tun als ob.«
    Mrs Fox ist beinahe so klein geworden wie ich.
    Corinne schaut sie an, dann mich, dann rückt sie ihr Häubchen zurecht, zupft ihren Umhang glatt, reckt den Kopf nach rechts und nach links. Sie schließt die Augen und atmet tief aus. Ohne mich anzuschauen, sagt sie: »Versuch’s noch mal.«
    »Der Unterschied zwischen einer Klinik und einem Haus der Heilung ?«, fragt Mistress Coyle, während sie Punkte auf einer Liste abhakt.
    »Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass in einer Klinik männliche Ärzte arbeiten, in Letzterem aber Heilerinnen«, sage ich her, während ich die täglichen Tablettenrationen für die Patienten in kleine Schächtelchen abzähle.
    »Und weshalb ist das so?«
    »Damit die Patienten, Männer oder Frauen, die Wahl haben, ob sie die Gedanken ihres Arztes lesen wollen oder nicht.«
    Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Und was steckt in Wahrheit dahinter?«
    »Politische Gründe«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen.
    »Richtig.« Sie ist mit dem Schreibkram fertig und drückt mir ein Blatt Papier in die Hand. »Bring dies und die Medikamente zu Madeleine, bitte.«
    Sie geht und ich sortiere die letzten Tabletten in die Schächtelchen. Als ich das Zimmer verlasse, sehe ich Mistress Coyle am anderen Ende des Gangs, wie sie gerade an Mistress Nadari vorbeieilt.
    Und ich könnte schwören, dass sie Mistress Nadari heimlich einen Zettel zugesteckt hat, ohne dass eine von ihnen auch nur eine Sekunde stehen geblieben ist.
    Immer noch dürfen wir höchstens eine Stunde lang nach draußen, immer noch müssen wir in Vierergruppen gehen, aber das genügt, um wahrzunehmen, dass das Leben in New Prentisstown allmählich

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