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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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ersten, das ich im Speiseraum und nicht mehr in meinem Bett einnehmen darf. »Die Kathedrale ist nicht nur seine Einsatzzentrale. Er wohnt jetzt darin.«
    Ein empörtes Geschnatter der Frauen um Mistress Coyle ist die Antwort. Mistress Waggoner schiebt sogar ihren Teller weg. »Er hält sich jetzt wohl gar für den lieben Gott.«
    »Immerhin, er hat die Stadt nicht niedergebrannt«, sage ich am Tischende. Maddy und Corinne blicken mit großen Augen von ihren Tellern auf. Aber ich lasse mich nicht beirren. »Wir dachten doch alle, dass er genau das tun würde.«
    Mistress Waggoner und Mistress Lawson werfen Mistress Coyle vielsagende Blicke zu.
    »Du bist noch viel zu jung, Viola«, tadelt mich Mistress Coyle. »Und du solltest den Ältesten nicht widersprechen.«
    Ich blinzle überrascht. »Das hatte ich nicht vor«, verteidige ich mich. »Ich wollte damit nur sagen, dass wir etwas anderes erwartet haben.«
    Mistress Coyle nimmt einen Bissen und schaut mich forschend an. »Er hat alle Frauen in seiner Stadt töten lassen, weil er sie nicht hören konnte. Weil er sie nicht in der gleichen Weise durchschauen konnte, wie er die Männer durchschaute, ehe es die Arznei gab.«
    Die anderen Meisterinnen nicken zustimmend. Ich will noch etwas sagen, aber sie fällt mir ins Wort.
    »Eines darfst du nicht vergessen, Mädchen«, sagt sie. »Alles, was wir seit unserer Landung auf diesem Planeten durchgemacht haben – der Lärm, der neu für uns war, die Wirren, die darauf folgten –, von all dem haben deine Freunde dort oben keine Ahnung.« Sie betrachtet mich jetzt aufmerksam. »Aber alles, was uns passiert ist, wird auch ihnen widerfahren.«
    Ich antworte nicht, sehe sie nur an.
    »Und wer soll deiner Meinung nach unser Anführer sein, wenn das geschieht?«, fragt sie. » Er vielleicht?«
    Nun da sie mir klargemacht hat, worauf sie hinauswill, wendet sie sich wieder den anderen Heilerinnen zu. Corinne isst weiter und grinst hämisch dabei. Maddy starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an, aber ich kann nur immer an die Frage denken, die im Raum steht.
    Als sie sagte: »Er«, meinte sie damit: »Er oder ich«?
    Am neunten Tag der Ausgangssperre bin ich keine Patientin mehr. Mistress Coyle bestellt mich in ihr Büro.
    »Deine Kleider«, sagt sie und schiebt ein Bündel über den Schreibtisch. »Du kannst sie anziehen, wenn du magst. Dann hast du wieder das Gefühl, ein normaler Mensch zu sein.«
    »Danke«, sage ich und ich meine es aufrichtig. Ich gehe hinter den Wandschirm, auf den sie gedeutet hat, ziehe die Krankenhaussachen aus und untersuche einen Moment lang meine Wunden. Beide, an Bauch und Rücken, sind beinahe verheilt.
    »Ihr seid wirklich eine begnadete Heilerin«, sage ich.
    »Ich gebe mir Mühe«, erwidert Mistress Coyle hinter ihrem Schreibtisch.
    Ich schnüre das Bündel auf und finde darin meine alten Kleider wieder, sie sind gewaschen und duften so frisch und angenehm, dass ich ein merkwürdiges Ziehen im Gesicht verspüre, bis ich merke, dass ich lächle.
    »Du bist ein tüchtiges Mädchen, Viola«, sagt Mistress Coyle, während ich mich umziehe. »Mal abgesehen davon, dass du nicht weißt, wann du lieber den Mund halten solltest.«
    »Danke«, sage ich leicht beleidigt.
    »Die Bruchlandung eures Raumschiffs, der Tod deiner Eltern, die aufregende Reise hierher. Diese schwierige Situation hast du mit Klugheit bewältigt.«
    »Ich war ja nicht allein«, antworte ich und setze mich hin, um die Strümpfe anzuziehen.
    Auf einem kleinen Beistelltisch liegt Mistress Coyles Notizbuch, das so viel über unsere Gespräche enthält. Ich blicke auf, Mistress Coyle ist noch immer auf der anderen Seite der Trennwand. Ich strecke die Hand aus und schlage das Notizbuch auf.
    »Ich habe das Gefühl, dass du zu Höherem berufen bist, Mädchen«, sagt sie. »Du hast das Zeug zu einer Anführerin.«
    Das Notizbuch liegt verkehrt herum vor mir, und ich will kein Geräusch machen, wenn ich es verschiebe, deshalb verrenke ich mir beinahe den Hals.
    »Du bist mir in vielem ähnlich.«
    Auf der ersten Seite, vor allen Notizen, die sie gemacht hat, steht ein einzelner Buchstabe in blauer Tinte.
    Ein A.
    Sonst nichts.
    »Wir haben die Wahl, was aus uns wird, Viola«, redet Mistress Coyle weiter. »Und du kannst uns eine große Hilfe sein. Wenn du willst.«
    »Wer ist wir?«
    Die Tür fliegt auf, so laut und unerwartet, dass ich aufspringe und hinter der Trennwand hervorspähe. Es ist Maddy. »Ein Bote war da«, sagt sie atemlos.

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